Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich
Bosz der Baumeister
Er ist der Architekt des Erfolgs von Bayer Leverkusen. Dabei widerlegt er alle Klischees aus Dortmunder Zeiten.
LEVERKUSEN Es laufen die letzten Minuten. Bayer Leverkusen führt 4:2 gegen Mönchengladbach. Es geht darum, das Ergebnis über die Zeit zu bringen. Peter Bosz ist das nicht genug. „Weiter! Jagen! Jagen! Jagen!“, schallt seine Stimme durchs leere Stadion. Das Kommando an seine Spieler ist klar: nicht nachlassen, weiter anlaufen, Druck machen, Bälle erobern und schnell umschalten – egal, ob noch 30 Minuten oder 30 Sekunden zu spielen sind. Gladbach kommt durch ein Traumtor von Valentino Lazaro zwar noch zum 4:3, doch dann ertönt der Schlusspfiff und einer der bislang wichtigsten Saisonsiege der Werkself ist perfekt.
Das Spektakel im November dürfte ganz nach dem Geschmack von Bosz gewesen sein. Wenn der Niederländer über Fußball spricht, geht es immer auch um Ästhetik. Seine Mannschaft soll erfolgreich und mitreißend sein. Immer wieder betont der Niederländer, wie wichtig ihm offensive Attraktivität ist. Er will die Zuschauer begeistern und nicht nur gewinnen, sondern schön gewinnen.
Das gelingt ihm mit der Werkself bislang regelmäßig. In der Europa League zog Leverkusen durch das 4:0 am Donnerstag gegen Slavia Prag als Gruppenerster in die K.o.-Phase ein – und stellte mit insgesamt 21 erzielten Toren in der Vorrunde einen neuen Rekord für deutsche Mannschaften in dem Wettbewerb auf. In der Bundesliga ist Bayer bislang ungeschlagen und rangiert hinter dem FC Bayern auf Platz zwei. Am Sonntag geht es mit dem Heimspiel gegen Hoffenheim weiter (18 Uhr). Dann folgt am Mittwoch das Derby in Köln und am Samstag vor Heiligabend das Topspiel gegen den Dauermeister aus München.
Es ist ein strammes Restprogramm in einem durch Corona besonders eng getakteten Jahr. Doch trotz langer Verletztenliste und der Abgänge der Topscorer Kai Havertz sowie Kevin Volland scheint Bayer derzeit förmlich durch die Englischen Wochen
zu schweben. Die Mannschaft wirkt so stabil, wie schon seit Jahren nicht mehr. Der Teamgeist ist ebenso stark, wie der Wille, Spiele zu gewinnen und Rückschläge wegzustecken. Zur Not auch ohne Ästhetik.
Dazu stimmen die physischen Voraussetzungen: Kein Team der Liga macht mehr intensive Läufe als Leverkusen, kaum eins hat mehr Ballbesitz oder eine bessere Passquote, und nur Bielefeld hat bislang eine minimal höhere Gesamtlaufdistanz vorzuweisen. Trotzdem wirken die Spieler nicht müde, sondern selbst in der 89. Minute in Beinen und Kopf erstaunlich frisch. Das ist eine Folge durchdachter Trainingsarbeit. Bosz schafft es, Belastung und Regeneration in Balance zu halten, ohne dass die Physis leidet.
Als der 57-Jährige im Januar 2019 sein Amt in Leverkusen antrat, ließ er mit bemerkenswerten Sätzen aufhorchen. Auf sein letztlich gescheitertes Engagement in Dortmund angesprochen, das im Dezember 2017 nach wenigen Monaten jäh endete, entgegnete er, dass er mit der Bundesliga noch nicht fertig sei. „Die Menschen in Deutschland sollen den wahren Peter Bosz kennenlernen“, sagte er. Seitdem widerlegt er die Klischees, die ihn nach seiner Zeit beim BVB begleitet haben.
Von vermeintlich lascher Trainingsarbeit kann jedenfalls ebenso wenig die Rede sein, wie von taktischem Starrsinn. Im Gegenteil: Bosz hat sich als überaus variabler Trainer bewiesen, der auch mit widrigen Umständen klarkommt. Nicht nur in dieser Saison wechselt er munter zwischen Spielsystemen, Taktiken und Startaufstellungen. Mal agiert die Werkself unter seiner Regie im 4-3-3, mal im 4-2-3-1, 4-1-4-1 oder im 3-1-4-2. Als Havertz und Volland verkauft waren, forcierte er mit Leon Bailey und Moussa Diaby erfolgreich das Spiel über die Flügel und verlieh der Mannschaft gleichzeitig defensive Stabilität. Erst neun Gegentore fing sich Bayer ein – zusammen mit Leipzig der ligaweite Bestwert. Immer wieder betonen die Spieler zudem den klaren Plan, mit dem sie in die jeweiligen Partien gehen. Der notorische Wankelmut der Werkself ist offenbar überwunden. So beständig war Bayer lange nicht. Daran ändert auch das Verletzungspech nichts.
Rudi Völler lobte den Trainer in einem TV-Interview bei Nitro unlängst in den höchsten Tönen. „Er hat bei uns eine Entwicklung durchgemacht, aus der Vergangenheit gelernt und ein paar Dinge verändert, was das extrem Offensive angeht“, sagte der Sportgeschäftsführer des Werksklubs. Leverkusen erziele viele Tore, verteidige jetzt aber auch stark und lasse wenig zu. „Das ist sein Verdienst“, betonte Völler. Er hob zudem hervor, dass Bosz Bayer seinen Stil aufgedrückt habe.
Der Architekt des Erfolgs gibt sich bescheiden. „Ich bin ein alter Mann, aber ich lerne jeden Tag dazu“, erwiderte er vor kurzem auf seine persönliche Entwicklung angesprochen. Vor dem Duell gegen den anderen deutschen Europa-League-Gruppensieger aus Hoffenheim erklärt er das anhaltende Hoch der Werkself mit einer simplen Formel: „Wenn man Spiele gewinnt, ist alles ein bisschen einfacher.“Wichtig für den Teamgeist sei, dass jeder Spieler eine Perspektive habe und auf seine Einsätze komme. „Am Ende haben wir aber natürlich auch die Qualität. Für Siege braucht man gute Spieler.“
Und einen guten Trainer, der selbst einhält, was er von seinen Profis fordert: Entwicklung.