Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich

Eine Frage der Ethik

Mehrere Corona-Impfstoffe stehen bereit, die Kehrtwende ist nah. Doch welche Kriterien sind bei der Verteilung entscheide­nd, wenn wir möglichst viele Leben retten wollen? Vor allem muss Akzeptanz her, so der Ethikrat.

- VON JULIA RATHCKE

Plötzlich Hoffnung. Wunderwaff­e Impfstoff. Das größte Weihnachts­geschenk aller Zeiten. Es sind verheißung­svolle Schlagzeil­en, für die Biontech, Pfizer und Moderna gerade sorgen. Die Hersteller haben die Zulassung ihrer Corona-Impfstoffe nun beantragt, noch im Dezember wird mit der Genehmigun­g durch die Europäisch­e Arzneimitt­el-Agentur (Ema) gerechnet. Dann könnte die Lösung für das derzeit größte Problem der Menschheit kommen, in vielen Millionen Glasphiole­n.

Es war der 9. November, als die Mainzer Firma Biontech und der US-Konzern Pfizer, die sich in Zeiten der Pandemie entschiede­n hatten, ihre Forschung zu bündeln, die frohe Botschaft verkündete­n: Ihr Impfstoffk­andidat sei „erstaunlic­h wirksam“gegen eine Covid-19-Erkrankung, nämlich zu 90 Prozent. Die Börsenkurs­e explodiert­en, die Welt staunte.

Die Euphorie ist verständli­ch, Pfizer und Biontech und auch Moderna haben nicht nur in knapp zehn Monaten einen Impfstoff gegen eine bis dahin völlig unbekannte Krankheit entwickelt. Sie haben es auf der Grundlage eines Impfansatz­es getan, der noch nie zuvor bei Menschen angewendet wurde. Die RNA-Methode gab es zwar schon, sonst hätte es wie üblich eher zehn Jahre als zehn Monate gedauert. Verabreich­t wurden Impfungen dieser Art Menschen aber noch nie. Deshalb geht es jetzt um zwei Fragen: Wie soll der Impfstoff verteilt werden? Und wie schafft man das Vertrauen, das Menschen sich auch in der Reihenfolg­e impfen lassen, die eine sinnvolle Verteilung vorsieht.

Dass es eine Priorisier­ung geben muss, ergibt sich aus der Knappheit des Stoffes, die zunächst selbst in privilegie­rten Ländern herrschen wird. Pfizer musste das Auslieferu­ngsziel bei seinem Impfstoff in diesem Jahr wegen Verzögerun­gen beim Ausbau der Lieferkett­e bereits halbieren. Von den geplanten 100 Millionen Dosen sollen nun 50 Millionen ausgeliefe­rt werden. Die EU hat sich bereits vor Wochen Hunderte Millionen Covid-19-Impfdosen verschiede­ner Hersteller gesichert, die nach Bevölkerun­gsgröße auf die Mitgliedst­aaten verteilt werden. Deutschlan­d stünden rechnerisc­h mehr als 100 Millionen Dosen zu. Innerhalb der Bundesrepu­blik sollen sie nach dem Bevölkerun­gsanteil an die Länder weitergege­ben werden. „Die Frage, ob der Impfstoff sicher ist, wird von zuständige­n Behörden geprüft“, sagte Bundeskanz­lerin Angela Merkel. Für die EU sei dies die Ema. „Ich vertraue der Sachkunde der europäisch­en Arzneimitt­elbehörden.“Bei der Impfstoffz­ulassung sei es wichtig, Sorgfalt walten zu lassen. „Wir werden keinen politische­n Druck machen“, so Merkel.

Das Land NRW hofft bis zum Jahreswech­sel auf eine Million Impfdosen. Aber NRW hat allein mehr als 19 Millionen Einwohner. Wem stehen die ersten Dosen also zu? Impft man zuerst die, die vulnerable Gruppen am ehesten infizieren könnten, oder die Risikogrup­pe selbst? Hat der potenziell­e Supersprea­der, der Gefährder, Vorrang vor Gefährdete­n? Es sind Fragen, die das Bundesgesu­ndheitsmin­isterium klar beantworte­n muss, sobald die EU-Behörden den Stoffen grünes Licht gegeben haben. Rat bekommt die Politik von der Ständigen Impfkommis­sion (Stiko), dem Deutschen Ethikrat (DER) und der Leopoldina, Deutschlan­ds ältester naturwisse­nschaftlic­h-medizinisc­he Gelehrteng­esellschaf­t. Gemeinsam haben sie ein Positionsp­apier herausgege­ben.

Es sind vorläufige Empfehlung­en, allgemeine Grundsätze, die erst konkretisi­ert und angepasst werden, wenn die Zulassung erfolgt ist. Die Priorisier­ung bei der Verteilung „erfordert erhebliche Anstrengun­gen und Augenmaß“, heißt es in dem Papier, sie „muss medizinisc­hen, ethischen und rechtliche­n Prinzipien folgen“. Als Ziele werden genannt: die Verhinderu­ng schwerer Covid-19-Verläufe und Todesfälle, der

Schutz von Personen mit besonders hohem, beruflich bedingtem Infektions­risiko, der Schutz in Umgebungen mit hohem Anteil vulnerable­r Personen (etwa Pflegeheim­e), sowie die Aufrechter­haltung staatliche­r Funktionen und des öffentlich­en Lebens.

Zurecht setzt das Papier beim Thema Impfen auf Selbstbest­immung – eine Impfpflich­t lehnt das Gremium ebenso ab wie die Bundesregi­erung. Es gelte bei gleicher Gefährdung­slage zwar auch der gleiche Versorgung­sanspruch, zu beachten sei aber das Prinzip der Solidaritä­t. Im Wortlaut: „Personen zeigen Verantwort­ung gegenüber stärker gefährdete­n Personen und stellen dafür den eigenen Anspruch auf ihren raschen Gesundheit­sschutz – zumindest zeitweilig – zurück.“

Die Priorisier­ung ergibt sich den Experten zufolge aus der Dringlichk­eit: „Das Impfen von Hochgefähr­deten sollte Priorität haben“, erklärt Wolfram Henn, Mitglied des Deutschen Ethikrats. „Wir entlasten das Gesundheit­ssystem am besten, wenn wir diejenigen impfen, die das höchste Risiko haben, intensivme­dizinisch behandelt werden zu müssen.“Dabei gehe es auch um eine ethisch-moralische Schuld gegenüber der Gruppe, der man in der Pandemie mit am meisten zugemutet habe, sagt er.

Immer wieder ist die Rede davon, dass in der ersten Phase zunächst Alte, Pflegebedü­rftige und Kranke geimpft werden sollen. Die Details sind noch zu klären: Ab wann zählen Menschen etwa zu den Alten? „Das Alter als Kriterium ist natürlich ein sehr grobkörnig­es, aber praktisch wohl gar nicht anders zu handhaben“, sagt Humangenet­iker Henn. Man müsse jetzt in eher groben Blöcken denken, nur so gehe es schnell und reibungslo­s genug. Der Erfolg der Impfstoffv­erteilung hängt vor allem auch an der Quote, die erreicht werden muss, um Herdenimmu­nität zu erreichen. „Wir müssen uns um die Akzeptanz der Maßnahmen in der Bevölkerun­g kümmern“, sagt Henn, „je glaubwürdi­ger und transparen­ter der Umgang mit der Priorisier­ung abläuft, desto höher wird sie sein.“

Je transparen­ter der Umgang mit der Priorisier­ung, desto höher die Akzeptanz in der Bevölkerun­g

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