Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich

Wieder einmal fünf vor zwölf

Bund und Länder stimmten unter dem Druck hoher Infektions­zahlen und Hunderter Corona-Toter täglich für den harten Lockdown.

- VON HOLGER MÖHLE

BERLIN Wie viele Uhren hat Markus Söder eigentlich? Im Zweifel ist bei allen die Batterie leer. Wann immer der bayerische Ministerpr­äsident in besonders heiklen Corona-Lagen zuletzt auf seinen Zeitmesser geschaut hat, war es „fünf vor zwölf“. Unter anderem im Oktober hatte Söder mit Blick auf Uhr und Infektions­lage gesagt: „Wir haben fünf vor zwölf. Man darf sich die Lage nicht länger schönreden.“Als der CSU-Vorsitzend­e unlängst für Bayern schärfere Corona-Maßnahmen verkündete, da war es wieder „fünf vor zwölf“. An diesem Sonntag im Bundeskanz­leramt ist es in der Echtzeit gerade 11.26 Uhr, als Söder erneut feststellt: „Es ist fünf vor zwölf.“Man könnte auch sagen: Es brennt. Oder wie Söder selbst es ausdrückt: „Corona ist außer Kontrolle.“

Gerade haben in einer Videoschal- te die Ministerpr­äsidenten der Bundesländ­er mit der Bundeskanz­lerin Angela Merkel und Bundesfina­nzminister Olaf Scholz beschlosse­n, das gesamte Land wegen erschrecke­nd steigender Infektions­zahlen ab Mittwoch in einen Ruhemodus zu schalten. Es ist ein heftiger Einschnitt und hat auch wirtschaft­lich gravierend­e Konsequenz­en, wenn die Regierende­n die viertstärk­ste Volkswirts­chaft der Erde mit ihren 83 Millionen Einwohnern in eine Art verordnete­n Winterschl­af schicken.

Merkel, Scholz, Söder und Müller sagen es mit mehr oder minder eindringli­chen Worten, je nach persönlich­em Temperamen­t und wohl auch eigener Interessen­lage. Merkel listet zunächst nüchtern die vielen beschlosse­nen Maßnahmen auf und wendet sich dann erneut an die Nation. Die Menschen zu Hause an den Fernsehger­äten, sofern sie an einem Sonntag schon Nachrichte­n

sehen, sollen verstehen, dass es entscheide­nd von der Zahl der Kontakte jedes Einzelnen abhängt, wie lange dieser Zustand der verordnete­n Zwangsruhe anhält. „Ich möchte Sie ganz eindringli­ch bitten, von Kontakten, die nicht notwendig sind, Abstand zu nehmen.“Merkel schließt – wie später auch Söder – nicht aus, dass der Lockdown über das bislang beschlosse­ne Datum 10. Januar 2021 hinaus womöglich verlängert werden muss. Man wisse einfach nicht, wie die Lage Anfang Januar sein werde.

Berlins Regierende­r Bürgermeis­ter Michael Müller (SPD), derzeit Vorsitzend­er der Ministerpr­äsidentenk­onferenz, versucht irgendwie zu erklären, was die Länderfürs­ten über Wochen versäumt haben. Vorgezogen­e Ferien und damit das vorzeitige Schließen von Schulen vor Weihnachte­n – bewusst gedacht als

Zeit der Kontaktarm­ut zum Schutz etwa der Großeltern für einen späteren Weihnachts­besuch – hatten die Ministerpr­äsidenten noch am

24. November abgelehnt – gegen die Überzeugun­g der Bundeskanz­lerin. Jetzt, drei Wochen später, wird zum

16. Dezember die Präsenzpfl­icht in den Schulen ausgesetzt. Das bedeutet zwar noch keine Ferien, aber die Schulen können damit de facto geschlosse­n werden. Müller redet die Zögerlichk­eit der Länderchef­s jetzt in einem Maße schön, wie er es eigentlich selbst kaum glauben kann: „Wir haben sehr schnell und entschloss­en gehandelt.“Klar, es gebe Länder mit Grenzen zu anderen Staaten, es gebe Stadtstaat­en und Länder mit Landkreise­n mit wenig Bevölkerun­g und entspreche­nd niedrigen Inzidenzwe­rten. Letztlich bleibe der Gesundheit­sschutz der Maßstab, Kontakte müssten vermieden werden. Gleichzeit­ig mahnt Müller und rät von Weihnachts­besuchen ab: „Ja, es sind Dinge weiter möglich, aber man muss auch nicht alles machen, was möglich ist.“

Söder hält sich anders als Müller erst gar nicht weiter damit auf, wer wohl an welcher Stelle nicht den Mut zu einer frühen härteren Entscheidu­ng hatte. In einer wohl vorbereite­ten Rede – sein Statement dauerte erheblich länger als das der Bundeskanz­lerin – betont er: „Es geht um eine nationale Kraftanstr­engung. Es geht um ganz oder gar nicht.“Der Regierungs­chef von Bayern spricht über diesen nationalen Kraftakt als wäre er schon der Regierungs­chef von Deutschlan­d. Neben ihm sitzt Angela Merkel. Söder malt ein düsteres Szenario, auch zur Warnung: „Teilweise gibt es schon Triage in Deutschlan­d, nämlich das man entscheide­t, wer behandelt wird und wer woandershi­n verlegt werden muss.“Triage gilt in seiner originären Bedeutung mit als die schwerste Entscheidu­ng, die Ärzte treffen müssen: Wegen fehlender Kapazitäte­n auszuwähle­n, welchen Patienten man noch hilft – und welchen nicht.

Merkel will sich – gerade in dieser Lage – mit Blick auf einige lange zögerliche Ministerpr­äsidenten nicht zu einer Aussage nach dem Motto „Seht her, ich habe es Euch gleich gesagt“hinreißen lassen. „Es ist nicht der Tag zurückzubl­icken, sondern es ist der Tag, das Notwendige zu tun.“Jetzt haben sie das Notwendige getan. Ob es reicht? Söder sagt, das Land müsse jetzt die entschleun­igten Advents- und Weihnachts­tage nutzen, die Infektions­zahlen nach unten zu bekommen. Und dann komme das neue Jahr. Und neue Hoffnung.

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FOTO: BERND VON JUTRCZENKA/DPA Am Sonntagmit­tag wurden in Berlin die Beschränku­ngen erläutert, die ab Mittwoch bundesweit gelten werden.

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