Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich
„Corona verstärkt vorhandene Konflikte“
„Life Coach“Benedikt Eisermann spricht über Generationen, Familienprobleme in Corona-Zeiten und den Trend zur Unselbstständigkeit.
Herr Eisermann, Sie haben Philosophie, Psychologie und Erziehungswissenschaften studiert und sind Lehrkraft für besondere Aufgaben am Fachbereich Sozialwesen der Hochschule Niederrhein. Was sind denn Ihre besonderen Aufgaben? Erklären Sie das einmal.
Eisermann Lehrkräfte für besondere Aufgaben forschen in der Regel nicht, sondern lehren in erster Linie. Wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind dagegen vorwiegend in der Forschung tätig, Professorinnen und Professoren verbinden Forschung und Lehre. Ich halte hauptsächlich Seminare, manchmal vertretungsweise auch Vorlesungen.
Sie sind aber auch Familiencoach.
Eisermann Ich bin Life Coach. Das heißt, Menschen wenden sich an mich bei Problemen in ihrer Partnerschaft, ihrer Familie, bei Erziehungsund beruflichen Problemen. Familiencoaching ist also nur ein Teilgebiet meiner Tätigkeit, allerdings ein wichtiges.
Was sind die drängendsten Probleme von Familien?
Eisermann Von Elternseite sind das Erziehungsprobleme. Meistens geht es um Disziplin. „Mein Kind hört nicht auf mich!“, „Mein Sohn kommt und geht, wann er will!“, „Meine Tochter weigert sich, ihre Hausaufgaben zu machen!“– mit solchen Aussagen beginnen Elterngespräche oft. Häufig kommt es aber auch vor, dass sich Eltern bereits erwachsener Kinder an mich wenden – oder aber diese Kinder, weil es Probleme mit den Eltern gibt oder Konflikte zwischen den Geschwistern. Zuvor ist es dann zum Beispiel aufgrund unterschiedlicher Wertvorstellungen zur Eskalation gekommen.
Welche Konflikte entstehen denn zwischen erwachsenen Kindern und ihren Eltern?
Eisermann Oft geht es um Einmischung: Die Eltern reden in die Erziehung der Enkelkinder rein, weil sie andere Vorstellungen haben. Oder sie machen sich Sorgen um die Entwicklung ihrer Kinder. Die erwachsenen Kinder sind dann brüskiert, ziehen sich zurück, brechen mit den Eltern. Das kommt gar nicht so selten vor. Die verschiedenen Generationen haben vielfach unterschiedliche Werte und setzen die Prioritäten anders.
Wie definiert sich eine Generation?
Eisermann Unter Generation versteht man eine Altersgruppe, deren Mitglieder durch historische oder kulturelle Gegebenheiten und Ereignisse eine ähnliche Prägung erfahren haben. Es gibt zum Beispiel die Generation der Babyboomer, die im Mittel zwischen 1951 und 1966 geboren ist und deren Eltern Krieg und NS-Zeit erlebt haben. Für sie hat zum Beispiel Arbeit den höchsten Stellenwert. Dann folgt die Generation X, die im Schnitt zwischen 1967 und 1981 geboren wurde. Das ist die Generation der Friedensbewegung und des wachsenden Umweltbewusstseins. Für sie ist Zeit wertvoller als Geld. Die Generation X neigt noch zum hierarchischen Denken: Respekt ist mit der Funktion einer Person verbunden. Aber Vorsicht: Es gibt erhebliche Streuungen von Merkmalen innerhalb einer Generation. Zudem variieren Beginn und Ende einer Generation um bis zu 10 Jahre.
Nach Generation X folgen noch Y und Z. Wodurch sind sie gekennzeichnet?
Eisermann Die jüngeren Generationen respektieren ihr Gegenüber weniger aufgrund seiner Position, sondern eher aufgrund von Eigenschaften wie Verhalten, Leistung und Erfahrung. Die Generation Y wurde grob gesprochen zwischen 1982 und 1996 geboren. Sie stellen die erste Generation der Digital Natives dar. Und sie sind die erste Generation, deren Glück im Zentrum des Familienlebens stand – Stichwort Helikoptereltern. Sie wollen Spaß an der Arbeit haben, Führungspositionen sind ihnen nicht so wichtig.
Und Generation Z?
Eisermann Das ist die Generation, die kurz vor der Jahrtausendwende geboren wurde. Für sie ist Authentizität ein wichtiger Wert, Arbeit nur ein Teil des Lebens. Sie sind als Smart Natives mit dem Smartphone aufgewachsen, häufig sehr behütet worden und arbeiten tendenziell lieber allein als im Team.
Wenn so unterschiedliche Werte und Verhaltensmuster aufeinander prallen, gibt es dann heute mehr Konflikte zwischen den Generationen?
Eisermann Naja, die Pubertät, in der Kinder im Rahmen ihrer Persönlichkeitsentwicklung Grenzen austesten und sie neu definieren wollen, gab es immer. Problematisch ist eher, wenn Eltern die Freunde ihrer
Kinder sein wollen und keine Grenzen setzen. Aber Grenzen sind sehr wichtig, junge Menschen müssen lernen, dass nicht alles geht. Dass nicht immer jemand zur Verfügung steht und dass andere Menschen auch Bedürfnisse haben. Viele Kinder erleben Mama und Papa heute als Rundum-sorglos-Paket, als Personen, die immer verfügbar sind. Das führt dazu, dass Kinder heute unselbstständiger sind als noch in den 1990er Jahren.
Wie sehr prägt das Familienleben die Persönlichkeit eines Kindes?
Eisermann Kinder wollen und wollten sich immer gegen die Eltern abgrenzen. Wenn Eltern etwas besonders gut können, suchen sich die Kinder oft einen anderen Kompetenzbereich. Ähnliches gilt für Geschwister. Wenn ein Kind zum Beispiel besonders gut in der Schule ist, sucht sich das andere Kind automatisch ein anderes Feld, zum Beispiel Sport oder Musik. Oder es macht besonders abgefahrene Dinge in der Peergroup.
Weil es Anerkennung sucht?
Eisermann Ja, genau. Tragisch wird es dann, wenn keine Anerkennung damit verbunden ist. Wenn für die Eltern Musik oder Sport völlig nebensächlich sind. Oder das Sozialverhalten nur negative Aufmerksamkeit hervorruft. Es ist wichtig, die Fähigkeiten des Kindes zu erkennen und anzuerkennen und es nicht in eine bestimmte Richtung drängen zu wollen. Aus einer Rose kann man keine Tulpe machen. Durch Liebesentzug wird es lediglich eine kümmerliche Rose.
Hat Corona den Druck auf Familien erhöht?
Eisermann Corona ist ein Verstärker vorhandener Konflikte. Autoritätsprobleme treten deutlicher hervor. Bei der Heimbeschulung von Kindern zum Beispiel. Auch bei Paaren nehmen unter Umständen die Streitigkeiten zu, es zeigt sich, dass man vielleicht doch nicht so gut zueinander passt.
Dann ist das viel gepriesene Home-Office kein Zukunftsmodell?
Eisermann Das kommt darauf an. Bei Doppelverdienern ohne Kinder,
die genügend Platz haben, ist es wahrscheinlich kein Problem, von zu Hause aus zu arbeiten. Aber schon in kleineren Wohnungen ist es unter Umständen störend, wenn die eine in einer Online-Konferenz ist, während der andere konzentriert und still arbeiten will.
Gibt es noch andere Entwicklungen, die Familien belasten?
Eisermann Das Lebenstempo ist gestiegen, die Parallelität von Aufgaben, das Multitasking, nimmt weiter zu. Zeit ist zu einem kostbaren Gut geworden. Das spüren Familien besonders.
Haben Sie einen Ratschlag für Familien, der hilft, den Druck zu vermindern und Konflikte zu entschärfen?
Eisermann Jede Familie ist anders, aber meistens hilft es, sich einmal zusammenzusetzen und die tatsächlichen Bedürfnisse jedes Einzelnen zu benennen. Wer wünscht sich was? Das wird aufgeschrieben und dann besprochen. Die Offenlegung von Bedürfnissen ist immer der erste Schritt, im zweiten Schritt folgt dann der Versuch, die Bedürfnisse aller, so gut es geht, in Einklang zu bringen.