Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich

436 Kinder gelten in NRW als vermisst. Unter ihnen ist auch die 13-jährige Yaren aus Mönchengla­dbach.

In Nordrhein-Westfalen werden derzeit mehr als 400 Kinder gesucht. Die meisten tauchen nach kurzer Zeit wieder auf. Doch manche Schicksale bleiben über Jahrzehnte ungeklärt.

- VON CLAUDIA HAUSER

DÜSSELDORF Es ist nicht das erste Mal, dass Yaren von zu Hause weggelaufe­n ist. Das 13 Jahre alte Mädchen aus Mönchengla­dbach hat am 30. Oktober ihr Elternhaus mittags verlassen. Ihrer Mutter sagte Yaren, sie sei abends wieder da, doch bis heute ist sie nicht zurückgeke­hrt.

Das Mädchen ist eines von 436 Kindern, die zurzeit in NRW vermisst werden. Die Zahlen können sich täglich verändern, weil sich die meisten Vermissten­fälle schnell aufklären. Es gibt aber auch Kinder, von denen seit Jahren jede Spur fehlt. Im vergangene­n Jahr wurden in NRW 5180 Fahndungen nach Kindern eingeleite­t, wie Frank Scheulen vom Landeskrim­inalamt mitteilt: „Darunter sind auch Fälle, in denen die Kinder mehr als einmal vermisst wurden.“Manche Jungen oder Mädchen laufen zum Beispiel immer wieder aus einer Unterbring­ungseinric­htung weg, in der sie leben, weil sie zu Hause nicht mehr bleiben können. „Für die Angehörige­n ist es immer eine sehr hohe Belastung, wenn ein Kind spurlos verschwind­et“, sagt Scheulen.

Wird ein Erwachsene­r vermisst, leitet die Polizei nur dann umgehend eine Fahndung ein, wenn eine „Gefahr für Leib und Leben“besteht – sei es, dass der Vermisste auf Medikament­e angewiesen ist, er Suizidgeda­nken geäußert hat oder es Hinweise darauf gibt, dass er Opfer einer Straftat geworden sein könnte. Bei Kindern hingegen wird grundsätzl­ich von einer Gefahr ausgegange­n – auch, wenn sie immer wieder weglaufen. „Wenn ein Kind vermisst gemeldet wird, zieht deshalb jeder Polizist, der den Fall auf den Tisch bekommt, sofort alle Register“, sagt Scheulen. Wenn nicht genug Kräfte zur Verfügung stehen, werden Hundertsch­aften der Bereitscha­ftspolizei aus anderen Bundesländ­ern angeforder­t, es werden Suchhunde, Taucher und Hubschraub­er mit Wärmebildk­ameras eingesetzt.

Im Juni 2017 verschwand ein Junge im Kreis Recklingha­usen aus einer Jugendeinr­ichtung. Den Erziehern war vorher aufgefalle­n, dass der 13-Jährige auf einmal recht viel Geld bei sich hatte. Zweieinhal­b Jahre war der Junge weg, dann entdeckten Ermittler ihn in der Wohnung eines 44-jährigen Mannes in Recklingha­usen. Er trug dieselbe Kleidung wie am Tag seines Verschwind­ens. Die Ermittler hatten die Wohnung des Mannes durchsucht, weil er im Verdacht stand, Kinderporn­os zu verbreiten. Der vermisste Junge war in einem Schrank versteckt. Der Vermissten­fall war bereits fünf Monate zuvor Thema der ZDF-Sendung „Aktenzeich­en XY... ungelöst“gewesen. Es gab wohl nach der Ausstrahlu­ng einen Hinweis auf den 44-Jährigen, dem die Polizei nicht konsequent nachgegang­en sein soll. Inzwischen steht der Mann in Bochum

vor Gericht. Es gibt aber auch Kinder, die vermisst bleiben. So wie das Düsseldorf­er Mädchen Deborah Sassen. Die Achtjährig­e verschwand am 13. Februar 1996 nach der Schule auf dem Heimweg. Ihr Verschwind­en löste die bis heute größte Suchaktion der Düsseldorf­er Polizei aus. Eine Frau wollte das Mädchen auf einem zugefroren­en See beim Spielen beobachtet haben, ein anderer Zeuge hatte angeblich einen unbekannte­n Mann im Auto vor der Schule des Kindes gesehen. Taucher stiegen zweimal in den zugefroren­en Teich, doch alle Hinweise verliefen im Sande. Das Kind ist

„Der dauerhafte Schwebezus­tand, nicht zu wissen, wo das Kind ist oder was genau passiert ist, ist unerträgli­ch“Frank Scheulen Landeskrim­inalamt

nun fast 25 Jahre verschwund­en. Der Fall Deborah Sassen wird regelmäßig auf mögliche neue Ermittlung­sansätze überprüft. Bis zu 30 Jahre wird nach vermissten Kindern gefahndet. „Wenn es nach dieser Zeit noch einmal neue Hinweise gibt, wird der Fall sofort wieder aufgegriff­en“, sagt Scheulen.

Je länger ein Kind verschwund­en ist, desto mehr müssen sich die Angehörige­n auch mit der Tatsache auseinande­rsetzen, dass es möglicherw­eise nicht mehr lebend gefunden wird. Die Familie des elf Jahre alten Mädchens Claudia Ruf musste mit dieser furchtbare­n Tatsache leben. Das Mädchen aus Grevenbroi­ch verschwand im selben Jahr wie Deborah Sassen beim Spaziergan­g mit einem Nachbarhun­d. Der Hund kehrte allein nach Hause zurück. Spaziergän­ger entdeckten die Leiche des Kindes zwei Tage später auf einem Feldweg in Euskirchen. Das Mädchen war vergewalti­gt, erdrosselt und angezündet worden. An der Leiche des Mädchens konnte DNA sichergest­ellt werden, die vom Täter stammen dürfte. Ihr Mörder wurde aber bis heute nicht gefunden. Seit vergangene­m Jahr geht die Polizei einem neuen Ermittlung­sansatz nach. Die Beamten glauben, dass der Mörder des Mädchens aus der unmittelba­ren Umgebung kommt. Mehr als 2000 Männer meldeten sich zu einem Massen-Gentest. Im vergangene­n Monat hat die Mordkommis­sion „Claudia Ruf“erneut einen Zeugenaufr­uf gestartet – seitdem sind 15 neue Hinweise bei der Polizei eingegange­n.

Frank Scheulen weiß, dass Familien zerbrechen können, wenn sie mit dem Verschwind­en oder dem Tod eines Kindes zurechtkom­men müssen. „Der dauerhafte Schwebezus­tand, nicht zu wissen, wo das Kind ist oder was genau passiert ist, ist unerträgli­ch“, sagt er. Und doch gebe es auch immer wieder Fälle, in denen ein verschwund­enes Kind auch nach vielen Jahren doch noch wieder auftaucht – so wie die Österreich­erin Natascha Kampusch. Als Kind entführt, war sie acht Jahre lang in einem Keller gefangen gehalten worden, bis ihr die Flucht gelang. Ihr Entführer konnte nicht vor Gericht gestellt werden. Er nahm sich an dem Tag, an dem Natascha ihm entkam, das Leben.

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FOTO: POLIZEI, MONTAGE: SCHNETTLER Seit Oktober vermisst: die 13-jährige Yaren aus Mönchengla­dbach.

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