Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich

Zeitenwend­e im Nahen Osten

Vor zehn Jahren begann mit der Selbstverb­rennung eines Gemüsehänd­lers der Arabische Frühling. Die Proteste halten bis heute an.

- VON THOMAS SEIBERT

SIDI BOUZID Eine Verzweiflu­ngstat leitete vor zehn Jahren eine Zeitenwend­e im Nahen Osten ein. Am 17. Dezember 2010 übergoss sich der tunesische Gemüsehänd­ler Mohammed Bouazizi mit Benzin und zündete sich an, nachdem er von den Behörden in seiner Heimatstad­t Sidi Bouzid drangsalie­rt und gedemütigt worden war. Während der 26-Jährige mit schweren Verbrennun­gen im Krankenhau­s lag, breiteten sich in Tunesien Demonstrat­ionen gegen den damaligen Diktator Zine el-Abidine Ben Ali aus. Als Bouazizi am 4. Januar 2011 starb, war auch Ben Alis Schicksal besiegelt – zehn Tage später musste der Diktator fliehen. Seine Entmachtun­g wurde zum Fanal für Aufstände in der ganzen Region, die unter dem Namen Arabischer Frühling bekannt wurden.

In schneller Folge fegten Proteste den ägyptische­n Präsidente­n Husni Mubarak, den libyschen Machthaber Muammar Gaddafi und den jemenitisc­hen Staatschef Ali Abdullah Saleh hinweg. In Syrien begann ein Bürgerkrie­g, der eine halbe Million Menschen getötet und Millionen Flüchtling­e bis nach Europa getrieben hat. Nicht nur wegen des Krieges in Syrien steht zehn Jahre nach Bouazizis Selbstverb­rennung fest, dass dem Arabischen Frühling kein Durchmarsc­h der Demokratie folgte. Manche Autokraten konnten ihre Macht festigen. Doch sie stehen einer überwiegen­d jungen Bevölkerun­g gegenüber, die weiter Veränderun­gen fordert.

Dass Bouazizis Selbstverb­rennung so viele Menschen berührte und auf die Straße trieb, lag daran, dass Millionen von Tunesiern und anderen Bürgern im Nahen Osten wie er darunter litten, von einem autokratis­chen Regime kleingehal­ten zu werden. In einer Region, in der zwei von drei Menschen jünger als 30 Jahre sind, sahen sich viele um Zukunftspe­rspektiven betrogen. Institutio­nen und Cliquen um den jeweiligen starken Mann teilten sich

Macht, Geld und Einfluss, die Korruption war allgegenwä­rtig, die Arbeitslos­igkeit hoch. Arme Leute wie Bouazizi hatten schlicht keine Chance.

Langjährig­e Machthaber wie Ben Ali, der Tunesien seit 1987 regierte, Mubarak, der seit 1981 an der Macht war, oder Gaddafi, der sogar schon seit 1969 herrschte, hatten kein Rezept, um auf die Reformford­erungen zu reagieren. „Das Volk will den Sturz des Regimes“, riefen die Demonstran­ten, die den Tahrir-Platz in der ägyptische­n Hauptstadt Kairo im Jahr 2011 zum Epizentrum des Arabischen Frühlings machten.

Wie Domino-Steine fielen nach Ben Alis Entmachtun­g die autokratis­chen Regime in der Region, doch demokratis­che Fortschrit­te brachte der Arabische Frühling am Ende nur in Tunesien selbst, wo der friedliche Übergang zu einem demokratis­chen System trotz vieler Rückschläg­e gelang. Der östliche Nachbar Libyen dagegen versank in der Anarchie: Gaddafi wurde im Oktober 2011 von Rebellen erschossen, größere und kleinere Milizen kämpften um die Macht. Seit 2014 ist das Land in zwei verfeindet­e Teile gespalten. Im Jemen hat sich der interne Konflikt zu einem Stellvertr­eterkrieg zwischen den regionalen Rivalen Saudi-Arabien und Iran entwickelt.

In Ägypten folgte auf Mubaraks Sturz zwar eine demokratis­che Wahl, doch der neue Präsident Mohammed Mursi verprellte große Teile der Bevölkerun­g mit seinem islamistis­chen Programm. Mursi wurde 2013 von der Armee gestürzt und durch einen neuen Autokraten ersetzt: Ex-General Abdel Fattah al-Sisi regiert das Land mit harter Hand. In Syrien ließ Präsident Baschar al-Assad auf Demonstran­ten schießen und begann damit einen Krieg, der ihn fast die Macht gekostet hätte. Die Interventi­on Russlands im Jahr 2015 rettete Assad – doch vom Frieden ist Syrien weit entfernt.

Viele Forderunge­n des Jahres 2010 sind auch heute noch aktuell. Eine Umfrage des US-amerikanis­chen Arab Center ergab kürzlich, dass

75 Prozent der Bewohner arabischer Staaten nicht genug Geld haben, um ihre Grundbedür­fnisse zu befriedige­n und noch etwas zu sparen. Jeder dritte Araber unter 34 Jahren will auswandern. Eine große Mehrheit – 74 Prozent aller Befragten – hält die Demokratie für die beste Regierungs­form.

Der Irak, der Iran und der Libanon erleben zehn Jahre nach dem Beginn des Arabischen Frühlings heftige Proteste der unzufriede­nen Bevölkerun­g. Im Sudan musste der langjährig­e Machthaber Omar al-Baschir nach Demonstrat­ionen im vergangene­n Jahr das Feld räumen.

In der neuen Welle der Proteste, dem „Arabischen Frühling 2.0“, nutzen die Protagonis­ten wie schon in den Aufständen vor zehn Jahren Internet, Smartphone­s und Virtuelle Private Netzwerke (VPN) zur Umgehung der Zensur: Das Informatio­nsmonopol autokratis­cher Regierunge­n ist dahin. Baschir musste im Sudan aufgeben, obwohl seine Regierung den Zugang zu vielen Websites beschränkt­e: Seine Gegner vernetzten sich per VPN. Die Demonstran­ten haben zudem aus den Fehlern des ersten Arabischen Frühlings gelernt, wie der Nahost-Experte Marwan Muasher sagt. Im Libanon zum Beispiel wolle sich die neue Protestbew­egung nicht nach religiösen oder ethnischen Kriterien auseinande­rdividiere­n lassen, schrieb Muasher in einer Analyse für die Denkfabrik Carnegie Endowment for Internatio­nal Peace.

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FOTO: SALAH HABIBI/AP In der tunesische­n Hauptstadt Tunis protestier­en im Januar 2011 Demonstran­ten gegen die Regierung und zeigen ein Bild des Gemüsehänd­lers Mohammed Bouazizi, der sich selbst angezündet hatte.

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