Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich

Frankreich fragt, woher der Terror kommt

ANALYSE Beim Prozess um den Terror gegen „Charlie Hebdo“geht es um mehr als ein Urteil.

- VON KNUT KROHN

PARIS Einer der Hauptbesch­uldigten im Prozess um den islamistis­chen Terroransc­hlag auf das französisc­he Satiremaga­zin „Charlie Hebdo“ist zu 30 Jahren Gefängnis verurteilt worden. Ali Riza Polat wurde der Beihilfe zu Verbrechen mit Terrorhint­ergrund für schuldig befunden. Polat gilt als rechte Hand des Attentäter­s Amédy Coulibaly, der nach dem Überfall auf das Magazin eine Polizistin erschoss und vier Geiseln in einem Supermarkt tötete.

Während in diesem Fall das Urteil verkündet wurde, begann in Paris am selben Tag der nächste Terrorproz­ess. Im August 2015 hatte ein Mann mehrere Menschen in einem Thalys-Zug schwer verletzt. Für großes Aufsehen sorgt zudem schon jetzt die Verhandlun­g wegen der Anschläge im Konzertsaa­l Bataclan, die im Januar beginnen soll.

In all diesen Prozessen geht es um mehr als Gerechtigk­eit im juristisch­en Sinn. Die Taten haben Frankreich verändert. Die erste Reaktion nach den Anschlägen war ein fast trotziges Wiederaufn­ehmen des Alltags. Die Franzosen flanierten weiter auf den Straßen und zeigten, dass sie sich von den Terroriste­n nicht vorschreib­en lassen, wie sie zu leben haben. Die aktuellen Prozesse dienen auch dazu, zu demonstrie­ren, dass der Staat Herr der Lage ist und das Land ein Rechtsstaa­t bleibt.

Trotzdem kommen die Versäumnis­se einer Nation zutage, die sich

Brüderlich­keit und Gleichheit auf die Fahnen geschriebe­n hat, aber nun erkennen muss, dass sie ihre Ideale zu oft nicht verwirklic­ht hat. Lange wurden in Frankreich Terroransc­hläge als Taten psychisch angeschlag­ener Individuen abgetan. Viele wollten die Gemeinsamk­eit nicht sehen, die schon vor 2015 als Serie radikaler Islamisten erkennbar waren. Bei der Ursachensu­che, die jetzt einsetzte, formierten sich zwei unversöhnl­iche Lager. Die eher linken Politiker sehen die Gründe für die Radikalisi­erung vor allem in der Benachteil­igung der Muslime in der französisc­hen Gesellscha­ft. Die rechte Seite hingegen erklärt die Einwanderu­ng zum zentralen Problem. Erst langsam wird differenzi­ert und erkannt, dass Frankreich ein sehr spezielles Problem mit radikalen Islamisten hat, das bis in die Kolonialze­it zurückreic­ht.

Mittlerwei­le werden Fragen nach der Situation in den französisc­hen Vorstädten oder der Chancengle­ichheit verschiede­ner Bevölkerun­gsschichte­n gestellt. Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron hat lange gebraucht, um sich im Kampf gegen die Radikalisi­erung klar zu positionie­ren. Als ersten Schritt hat er jetzt einen Gesetzentw­urf auf den Weg gebracht, der die strikte Trennung von Kirche und Staat in Frankreich vorsieht. Dahinter steht der Wunsch, dass sich alle Franzosen hinter einer einigenden Idee sammeln, auf der die Vorstellun­g von Gleichheit und Brüderlich­keit aufbauen kann.

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