Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich

Maestro der Massen

Im Alter von 92 Jahren ist der Chorleiter Gotthilf Fischer gestorben. Schon in jungen Jahren hatte er Gesangsver­eine geleitet. Später wurde er durch die Fischer-Chöre berühmt, die weltweit in riesiger Besetzung auftraten.

- VON WOLFRAM GOERTZ

STUTTGART In einer Gegend, in der alles auf -ingen endet, liegt das Singen buchstäbli­ch in den Genen. Hier kommt jeder Mensch mit Anstand zur Probe und gern auch wieder, hier muss kein Chorleiter seine Sänger einzeln verhaften, er hat fleißig zu tun. Kein Wunder, dass in solchem Milieu einer wie Gotthilf Fischer berühmt wurde, der Menschenfä­nger aus Plochingen, der es – auch wenn das ein ganz anderes Fach war – selten unter der Chorstärke von Gustav Mahlers 8. Sinfonie tat, der legendären „Sinfonie der Tausend“.

Sein eigenes Fach, das war der volkstümli­che, ein- oder mehrstimmi­ge Chorgesang, der in ihm den Maestro der Massen fand. Für ihn gab es keine bessere Ausbildung als das schlichte Tun und Machen, wie er es in der Familie erlebt hatte. Bei den Fischers machte man Musik, sang man – und benötigte dazu kein Konzertexa­men. Dieser urwüchsige Zugang machte dem kleinen Gotthilf ( Jahrgang 1928) alles leicht, und da er ein kommunikat­ives Talent besaß, übernahm er nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs den Concordia-Gesangsver­ein in Deizisau; 1949 gewann der Chor beim Schwäbisch­en Sängerfest zwei Preise, und von da an war Fischer eine Marke.

Und bald kamen dann sozusagen die Grundreche­narten bei seiner Art des Musizieren­s hinzu, vor allem die Addition und die Multiplika­tion. Es fanden sich immer mehr Sänger ein, und da er auch die Zahl der Chöre unter seiner Ägide vermehrte, entstanden irgendwann die Fischer-Chöre. Diese von manchen belächelte­n, von vielen bewunderte­n Einsatzhun­dertschaft­en des Volksgesan­gs brachten bald auch Fernsehreg­isseure an den Rand des

Wahnsinns: Wie sollte man so viele Menschen ins Bild bekommen? Masse statt Qualität – das war bei Fischer indes nie die Frage. Er zeigte, dass ein kleines Lied ganz große Wirkung entfalten kann, wenn es nur mit Seele gesungen wird.

Immer sah man ihn lachen, scherzen und werben, er war gewiss ein Überredung­skünstler, wie es nur wenige im Bereich der sogenannte­n U-Musik gab, doch betrieb er sein Gewerbe nicht unseriös. Von Stimmen verstand er nämlich etwas. Natürlich, Bachs h-Moll-Messe wäre nie sein Ding gewesen, vokalen Hochleistu­ngssport überließ er anderen. Er hingegen zeigte, dass auch in „Wenn alle Brünnlein fließen“viel Kunst und Sinn stecken, wenn man es mit Melancholi­e und Schmelz vorträgt.

Manchmal verschliff­en sich die Ergebnisse der Probenarbe­it allerdings, wenn er mit zwei Jumbo-Jets unterwegs war, etwa zum Papst nach Rom, der die Fischer-Chöre zu hören wünschte, zum US-Präsidente­n

Jimmy Carter – oder zum Finale der Fußball-WM 1974 in München. Manchmal, nun ja, war es einfach nur laut. Egal. Dass er, der Schwabe, dabei nicht ehrenamtli­ch unterwegs war, versteht sich von selbst.

Im Jahr 2002 verblüffte Fischer das musikalisc­he Europa mit der Ankündigun­g, er wolle beim Schlager-Grand-Prix 2003 mit einer eigenen Band antreten. Das las sich frivol, doch mancher fand die Idee witzig. Wer wollte nicht dabei sein, wenn einer wie Fischer einem ganzen Kontinent ein lustiges Schippchen Musik in den Vorgarten schüttet? Aus dem Unternehme­n wurde dann aber nichts, irgendwie schade.

Jetzt ist dieser feine Musiker und fidele Mensch im Alter von 92 Jahren gestorben – ausgerechn­et zu einer Zeit, in der das öffentlich­e Singen beinahe unter Strafe steht. Wahrschein­lich hat sich Fischer gedacht, jetzt werde er hier unten sowieso nicht mehr gebraucht. Nun dirigiert er halt da oben. Gott hilft ihm dabei, wie immer schon.

 ?? FOTO: MARIJAN MURAT/DPA ?? Gotthilf Fischer gastierte mit seinen Chören beim Papst ebenso wie bei US-Präsident Jimmy Carter.
FOTO: MARIJAN MURAT/DPA Gotthilf Fischer gastierte mit seinen Chören beim Papst ebenso wie bei US-Präsident Jimmy Carter.

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