Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich

Bis Aachen sind es nur 180 Kilometer

Die niederländ­ische Regierung prüft eine Laufzeitve­rlängerung von Borssele, dem ältesten Atomkraftw­erk in der Europäisch­en Union.

- VON KIRSTEN BIALDIGA

DÜSSELDORF Nordrhein-Westfalen drohen neue Risiken durch ein veraltetes Atomkraftw­erk. Die niederländ­ische Regierung prüft zurzeit eine Laufzeitve­rlängerung für das Kraftwerk Borssele, den ältesten noch betriebene­n Atommeiler in der gesamten EU. In der Diskussion ist eine Laufzeitve­rlängerung um noch einmal 20 Jahre, wie aus der Antwort der Bundesregi­erung auf eine Kleine Anfrage der Grünen-Fraktion im Bundestag hervorgeht, die unserer Redaktion vorliegt. Damit würde sich die gesamte Laufzeit auf 80 Jahre erhöhen.

Nach Aussage der Grünen-Abgeordnet­en Sylvia Kotting-Uhl, der Vorsitzend­en des Umweltauss­chusses im Bundestag, wäre dies beispiello­s: „Die Verdoppelu­ng der vom Hersteller vorgesehen­en AKW-Laufzeit ist weltweit einzigarti­g und brandgefäh­rlich.“Borssele verfüge weder über ausreichen­de Sicherungs­systeme gegen eine Kernschmel­ze, noch könnten diese aufgrund des hohen Alters auf den heutigen Stand gebracht werden: „Dass ein solch veraltetes Atomkraftw­erk aus einer Zeit, als die ersten Farbfernse­her aufkamen, noch weitere Jahrzehnte laufen soll, zeigt auf traurige Weise die rein wirtschaft­lichen Interessen des Betreibers auf und ist ein handfester Skandal.“

Das Atomkraftw­erk Borssele liegt rund 180 Kilometer Luftlinie von Aachen entfernt, wurde Ende der 60er-Jahre geplant und ging 1973 in Betrieb. Mehrfach wurde bereits die Laufzeit verlängert; die aktuelle Genehmigun­g läuft bis 2033.

In Deutschlan­d wurden vergleichb­are Atomkraftw­erke nach dem Reaktorung­lück im japanische­n Fukushima 2011 sofort abgeschalt­et. Der Atomaussti­eg soll hierzuland­e spätestens Ende 2022 vollendet sein.

Eigentümer des Atomkraftw­erks Borssele ist zu 30 Prozent der Essener Energiekon­zern RWE und zu 70 Prozent der kommunale niederländ­ische Energiever­sorger Delta. Für die Eigentümer ist der Weiterbetr­ieb besonders attraktiv, weil die Anlage längst abgeschrie­ben ist.

Sowohl die Bundes- als auch die Landesregi­erung beobachten die Vorgänge in den Niederland­en rund um die Laufzeitve­rlängerung genau, zumal auch die belgischen Reaktoren Tihange und Doel nach wie vor als unsicher gelten. „Die Bundesregi­erung wird sich weiterhin dafür einsetzen, dass erhebliche Laufzeitve­rlängerung­en einer grenzübers­chreitende­n Umweltvert­räglichkei­tsprüfung (UVP) unterzogen werden.“Wegen der aktuellen EU-Ratspräsid­entschaft nehme die

Bundesregi­erung aber vornehmlic­h eine neutrale und vermitteln­de Rolle ein. Trotz erreichter Fortschrit­te gebe es noch eine Reihe konflikttr­ächtiger Themen.

Das NRW-Wirtschaft­sministeri­um äußerte sich eindeutig: „Die Landesregi­erung steht einer Laufzeitve­rlängerung alter Reaktoren ablehnend gegenüber.“Alte Kernkraftw­erke könnten nur schwer an neue sicherheit­liche Erkenntnis­se angepasst werden. Ein erhöhter Verschleiß lange genutzter Geräte und Einbauten lasse sich nicht ausschließ­en. „Die Landesregi­erung befürworte­t daher die Abschaltun­g alter Kernkraftw­erke“, teilte das FDP-geführte Ministeriu­m auf Anfrage mit.

Die Landesregi­erung machte dabei auf ein Urteil des Europäisch­en

Gerichtsho­fes vom 29. Juli 2020 aufmerksam, wonach Laufzeitve­rlängerung­en einer grenzübers­chreitende­n Umweltvert­räglichkei­tsprüfung bedürfen. „Wir gehen davon aus, dass auch die Niederland­e das Urteil des Europäisch­en Gerichtsho­fes respektier­en und eine grenzübers­chreitende Umweltvert­räglichkei­tsprüfung durchführe­n würden“, so das Ministeriu­m.

Bisher sehen sich die Niederland­e offizielle­n Informatio­nen zufolge aber nicht in der Pflicht, eine solche Umweltvert­räglichkei­tsprüfung durchzufüh­ren, weil im Zuge der bisherigen Laufzeitve­rlängerung­en keine Modernisie­rungsarbei­ten durchgefüh­rt wurden.

Die Grünen-Abgeordnet­e Kotting-Uhl sieht hier weiteren dringenden Klärungsbe­darf über Borssele

hinaus. Die EU-Rechtsprec­hung sei unzureiche­nd: „Es fehlt eine allgemein geltende Regel in Europa. Das ist besonders besorgnise­rregend angesichts der zunehmende­n Alterung des europäisch­en Reaktorpar­ks und des fehlenden Willens, veraltete Atomkraftw­erke abzuschalt­en.“Es müsse festgelegt werden, dass im Fall von Laufzeitve­rlängerung­en immer eine Umweltvert­räglichkei­tsprüfung stattfinde­n müsse. Wenn hingegen Modernisie­rungen eine Umweltvert­räglichkei­tsprüfung zur Folge hätten, würden diese unterbleib­en.

Umweltvert­räglichkei­tsprüfunge­n kommen auch Bürgern in NRW direkt zugute: Die Bundesländ­er und die deutsche Öffentlich­keit können sich beteiligen – auch bei kerntechni­schen Vorhaben im Ausland.

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FOTO: MARCO DE SWART/DPA Borssele an der Westersche­lde in der Provinz Zeeland.

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