Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich

Tödlicher Service

Das Verfassung­sgericht hat viele schockiert mit der Entscheidu­ng, dass zum Leben auch das Recht auf Tod und Suizidhilf­e gehört. Der Versuch, das Dilemma ethisch zu durchdring­en, legt oft unterschät­zte Erkenntnis­se offen.

- VON GREGOR MAYNTZ

Jeder hat das Recht auf Leben, sagt die Verfassung in Artikel 2. Zusammen mit der vom Staat zu schützende­n Würde des Menschen folgte daraus über Jahrzehnte die Überzeugun­g, dass gewerbsmäß­ige Sterbehilf­e nicht erlaubt sei. Bis zum 26. Februar 2020. Da entschied das Verfassung­sgericht, dass zum Recht auf Leben das Recht auf Sterben gehöre – einschließ­lich des Rechts, sich dabei helfen zu lassen. Ein ethisches Dilemma. Ein Thema, das den Deutschen Ethikrat und die Politiker im Bundestag umtreibt.

In zwei öffentlich­en Anhörungen hat der Ethikrat sich nun tief in die bedrückend­en Aspekte einer möglichen gesetzlich­en Neuregelun­g gekniet. Fachleute, die als Wissenscha­ftler, Ärzte und Psychologe­n mit dem Grenzberei­ch von Leben und Tod umgehen, haben Erfahrunge­n und Erkenntnis­se geliefert, die in der Debatte oft zu kurz kommen, die Bewertunge­n aber massiv beeinfluss­en sollten.

Da sind zum Beispiel auf der einen Seite die vom Verfassung­sgericht nicht vorgenomme­nen Alterseing­renzungen und die Regelungen in Nachbarlän­dern, wonach schon Zwölfjähri­ge die eigene Tötung verlangen dürfen. Und da sind auf der anderen Seite die Forschunge­n am menschlich­en Gehirn mit dem Befund, dass das weibliche Gehirn erst mit dem 22. oder 23. Lebensjahr vollständi­g entwickelt ist, das männliche erst mit dem 25. Davor sind nach den Worten des Wiener Jugendpsyc­hiaters Paul Plener die Regionen mit verstärkte­r negativer Wahrnehmun­g weiter entwickelt als die mit verstärkte­r positiver Wahrnehmun­g. Und doch sollen die Jugendlich­en darin unterstütz­t werden, im Überschwan­g der Emotionen geäußerte Todeswünsc­he umzusetzen?

Im vergangene­n Jahr haben sich elf Mädchen und elf Jungen zwischen zehn und 15 Jahren in Deutschlan­d umgebracht, hinzu kamen 42 junge Frauen und 163 junge Männer zwischen 15 und 20 Jahren. Es ist ein Verhältnis, das sich mit zunehmende­m Alter noch weiter auseinande­rbewegt. Zwar ist die Zahl der Suizidvers­uche annähernd ausgewogen zwischen Männern und Frauen. Doch Frauen bevorzugen Vergiftung­en in Situatione­n, in denen sie leichter gerettet werden können. Männer sind radikaler. Auch gegen sich selbst. Die Effekte von Beihilfe zum Suizid sind daher nicht überrasche­nd: Sie laufen darauf hinaus, dass sich die Zahl erfolgreic­h vollzogene­r Selbsttötu­ngen zwischen Männern und Frauen angleicht.

Dabei sind sich die Experten über ein weitverbre­itetes Missverstä­ndnis einig. „Nicht jeder Sterbewuns­ch ist auch ein Suizidwuns­ch“, sagt Reinhard Lindner, Psychother­apeut aus Kassel. Oft verbindet sich damit auch ein verborgene­r Hilferuf. Wie etwa bei dem 60-Jährigen, der von seiner Frau verlassen wird und im Beruf gescheiter­t ist. „Ohne Begleitung wäre er sicherlich offen geblieben für assistiert­en Suizid“, berichtet Lindner. Und diesen Fall fasst er mit vielen weiteren in der Feststellu­ng zusammen: „Reden hilft, andere Möglichkei­ten zu finden als den Tod.“

Anlass zu großer Besorgnis liest der Frankfurte­r Psychiater Ulrich Hegerl aus den niederländ­ischen Statistike­n heraus. Seit dort die Suizidhilf­e erlaubt ist, hat sich nicht nur die Zahl der Selbsttötu­ngen insgesamt mehr als verdoppelt, sondern auch die Zahl der Suizide ohne Hilfe hat zugenommen. Dagegen hat sich die Zahl der Suizide in Deutschlan­d seit 1980 sogar halbiert. Die beiden gegenläufi­gen Phänomene hierzuland­e führt der Professor darauf zurück, dass die Menschen ihre Hemmungen überwunden haben, sich bei psychische­n Problemen helfen zu lassen. In den Niederland­en habe sich dagegen eine „Normalisie­rung“des Suizids ergeben.

Will Deutschlan­d das? Will Deutschlan­d die Selbsttötu­ng als gewöhnlich­e Form, mit Lebensprob­lemen umzugehen? Immerhin spielt auch hier jeder

Fünfte während seines Lebens schon mal mit dem Gedanken an einen Suizid. Damit schwächelt zugleich ein weiteres, oft verwandtes Argument für die Akzeptanz des Freitodes: die Vorstellun­g von einer unheilbare­n, schweren Krankheit mit kaum noch erträglich­en Schmerzen und völlig fehlender Perspektiv­e als Anlass für die Entscheidu­ng. Nach britischen Studien macht der Anteil der schwer Erkrankten an den Menschen, die Suizid begehen, 39 Prozent aus. Nur 3,4 Prozent entfallen auf Krebskrank­e.

Nicht einig ist sich die Wissenscha­ft, ob die Tabuisieru­ng der Selbsttötu­ng anfällige Menschen schützt oder ihnen schadet. Der Kölner Palliativm­ediziner Raymund Voltz jedenfalls rät zu offenem Umgang mit Suizidgeda­nken und zu einer offensiven Abfrage. Und er schildert die Reaktion eines Mannes, der dazu gebracht wurde, über seinen Tod nachzudenk­en, und anschließe­nd schilderte: „Seit unserem Gespräch denke ich wieder über mein Leben nach.“

Viele individuel­le Schicksale machen es schwer, generelle Rahmenbedi­ngungen zu formuliere­n. Eine Gruppe von Abgeordnet­en aus mehreren Fraktionen um den Gesundheit­sexperten Karl Lauterbach will es gleichwohl versuchen und im Januar einen ersten Gesetzentw­urf vorlegen. Denn seit Februar herrscht in Deutschlan­d ethischer Wildwest-Zustand. Fast alles könnte erlaubt, nur weniges verboten sein.

Das hat Auswirkung­en auf die Ärzte, die bei ihrem nächsten Kongress voraussich­tlich im Sommer neue Regeln für die eigene Zunft beraten. Es geht um einen Leitfaden, der wohl mehr möglich macht, aber zu wenig verpflicht­et. Denn auch das ist in der Karlsruher Entscheidu­ng unterstric­hen: Sowenig einer gezwungen werden kann weiterzule­ben, kann ein Arzt gezwungen werden, ein Leben zu beenden.

Vielleicht liegt die wichtigste Orientieru­ng für Regelungen im genaueren Zuhören, wie es die Palliativm­edizinerin Claudia Bausewein aus München empfiehlt. Danach sagten viele nicht, dass sie nicht mehr leben wollten, sondern: „Ich will so nicht mehr leben.“

„Reden hilft, andere Möglichkei­ten zu finden als den Tod“Reinhard Lindner Psychother­apeut

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