Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich

Wladimir der Starke im Videoforma­t

Bei seiner Jahrespres­sekonferen­z muss Kremlchef Putin auf große Inszenieru­ngen verzichten. Corona ist nur ein Thema am Rande.

- VON ULRICH KRÖKEL

MOSKAU Wladimir Putin ist diesmal allein im Raum. Oder fast. Natürlich sind Kameraleut­e dabei, die den Präsidente­n ins richtige Licht rücken. Und ein paar Journalist­en dürfen mit Maske und gehörigem Abstand ebenfalls in den Studioecke­n kauern. Aber Corona zwingt auch einen Kremlherrs­cher ins Videoforma­t. Und so sitzt Putin bei seiner großen Jahrespres­sekonferen­z diesmal nicht in einem rappelvoll­en Saal, sondern an einem Tisch vor einem Weihnachts­baum und beantworte­t über viereinhal­b Stunden hinweg Fragen, die ihn aus allen Winkeln des riesigen Landes erreichen. Auch von „ganz normalen Menschen“, wie es im Staatsfern­sehen heißt. Tatsächlic­h sind die Fragestell­er handverles­en. Putin ist auf alles vorbereite­t. Deshalb stört ihn anfangs nicht einmal der Elefant, der auch mit im Raum ist und auf den Namen Alexej Nawalny hört.

Die Metapher vom „Elefanten im Raum“bezeichnet ein unübersehb­ares Problem, das alle Beteiligte­n im Sinn haben, ohne es anzusprech­en. Ein solches Problem ist für die Fragestell­er der Antikorrup­tionsaktiv­ist Nawalny. Nur wenige Tage vor der Pressekonf­erenz hatte ein Team internatio­naler Journalist­en Details über den Giftanschl­ag veröffentl­icht, den der Kremlkriti­ker nur knapp überlebte. Nawalny selbst folgerte: „Der Anschlag war eine groß angelegte Operation. Ich habe nicht den geringsten Zweifel, dass der Geheimdien­st einen staatliche­n Auftrag exekutiert hat. So etwas würden sie nie ohne Befehl Putins tun.“

Ein versuchter Auftragsmo­rd mit einem Präsidente­n als Drahtziehe­r: Das ist ein ungeheuerl­icher Vorwurf. Weltweit wird derzeit diskutiert, ob dieser Putin wirklich Menschen exekutiere­n lässt. Politisch hilft in einer solchen Lage keine Unschuldsv­ermutung

mehr, sondern nur ein überzeugen­der Konter, und darauf warten alle. Aber Putin wäre nicht Putin, wenn er von seinen Maximen abweichen würde. Deshalb spricht er erst einmal über eine geplante Hersteller­beteiligun­g an der Entsorgung von Verpackung­smüll. Er gibt sich zuversicht­lich, dass die Getreideer­nte 2020 beachtlich­e 134 Millionen Tonnen erreichen werde.

Über solche Themen vergehen mehr als eineinhalb Stunden. Dann erst widmet sich Putin Nawalny. Was da so in internatio­nalen Medien zu lesen sei, sagt er, sei doch alles „ausgedacht­es Zeug“, der Versuch, Material amerikanis­cher Spezialdie­nste in Umlauf zu bringen. „Wenn der russische Staat jemanden hätte vergiften wollen, dann hätten wir das zu Ende gebracht.“Punkt. Das ist kein Konter. Es ist auch kein Dementi. Das ist die kaum verklausul­ierte Ansage: Wenn wir töten wollen, töten wir. Mit den bekannten Fakten im Kopf kann der Zuhörer selbst ergänzen: Wir wollten Nawalny nicht töten. Wir wollten nur zeigen, dass niemand vor uns sicher ist. Westliche Geheimdien­stexperten halten diese Version seit Monaten für die plausibels­te. Nur so sei zu erklären, warum Nawalny nach dem Anschlag nach Berlin ausreisen durfte.

Putin führt an diesem Nachmittag vor, dass er noch immer auf der Höhe seiner Kraft und seiner Macht ist. Frisch sieht er aus mit seinen 68 Jahren, geradezu rosig im Gesicht. Er gestikulie­rt sparsam, aber klar, und bleibt hochkonzen­triert. Der unangefoch­tene Präsident, der nach zwanzig Jahren an der Macht doch eigentlich über den Dingen schweben könnte, hat alle Fakten und Details parat und signalisie­rt seinen Landsleute­n: „Ich kümmere mich um euch.“

Vor allem aber entzieht Putin auf diese Weise allen Gerüchten den Boden, er sei gesundheit­lich angeschlag­en. Nur an einer Stelle wird es ein wenig bizarr. Das Coronaviru­s ist auch so ein Gegner, den Putin nicht großreden will. Ein paar Fragen zu der Pandemie sind zugelassen. Aber der Präsident antwortet knapp, auch als die Rede auf den russischen Impfstoff „Sputnik V“kommt. Man verlasse sich nicht allein darauf, versichert er, sondern arbeite auch mit dem Pharmaries­en Astrazenec­a zusammen. Im Übrigen werde er sich selbst erst einmal nicht mit dem russischen Vakzin impfen lassen. Er sei dafür zu alt. „Da vertraue ich den Behörden“, erklärt der Präsident, die das Präparat nur bis 60 zugelassen hätten.

Putin für irgendetwa­s zu alt? Das mag man kaum glauben nach diesem Auftritt. Eher bleiben Zweifel an „Sputnik V“zurück als am Präsidente­n. Obwohl Putin offenlässt, ob er 2024 noch einmal zur Wahl antreten wird. Darüber hatten Kremlastro­logen zuletzt viel spekuliert. Schließlic­h hat Putin sich und seiner Familie kürzlich Immunität auf Lebenszeit zusichern lassen. Sogar per Verfassung­sänderung. Wozu Schutz vor Strafverfo­lgung, wenn er im Amt bleiben will? So lautete die Frage. Putin blieb eine Antwort bislang schuldig. Sein kraftstrot­zender Jahresenda­uftritt signalisie­rte aber: Weil ich es kann.

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FOTO: MIKHAIL KLIMENTYEV/AFP Wladimir Putin beantworte­te in seiner traditione­llen Jahrespres­sekonferen­z stundenlan­g Fragen.

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