Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich

Späte Wahl in der Stadt der unsichtbar­en Mauern

Im bosnischen Mostar wird am Sonntag das erste Mal seit zwölf Jahren wieder ein Stadtrat gewählt. Die Hoffnung auf einen Neubeginn ist jedoch begrenzt.

- VON THOMAS ROSER

MOSTAR Manche der in die Jahre gekommenen Erstwähler haben schon 30 Lenze auf dem Buckel: Erstmals seit zwölf Jahren werden die Bürger von Bosniens fünftgrößt­er Stadt Mostar am Sonntag wieder einen Stadtrat wählen. Er hoffe, dass die Wähler „für die Wende“stimmen würden, so Husein Orucevic, Kandidat der unabhängig­en Wahlliste „Recht auf die Stadt“: „Demokratie muss man üben. Ohne Stimme der Bürger wird sie nutzlos und von den Mächtigen missbrauch­t. Mostar ist das beste Beispiel dafür.“

Als „Krieg im Krieg“galten während des Bosnienkri­egs (1992–1995) die blutigen Auseinande­rsetzungen zwischen den HVO-Truppen der selbsterna­nnten Kroatenrep­ublik Herceg-Bosna und den Streitkräf­ten der muslimisch­en Bosniaken. Von Frühjahr 1993 bis Anfang 1994 wütete der Krieg in Mostar. Das von der HVO am 9. November 1993 zerstörte Stadtwahrz­eichen der Alten Brücke wurde zum tristen Symbol für Bosniens zertrümmer­ten Vielvölker­staat.

Mit internatio­naler Millionenh­ilfe wurde die zerstörte Altstadt nach Kriegsende wiederaufg­ebaut, die rekonstrui­erte Brücke 2004 neu eröffnet. Doch obwohl das malerische Mostar im Sommer längst wieder von zahlreiche­n Reisebusse­n angesteuer­t wird, ist Bosniens Touristenm­ekka

eine geteilte Stadt geblieben.

Nicht nur die Einschussl­öcher in den Mauern der Kriegsruin­en halten im engen Neretva-Tal die Erinnerung an die Vergangenh­eit wach. Mostar sei „leider durch Mauern geteilt, die man nicht sieht“, umschreibt die Menschenre­chtsaktivi­stin und Journalist­in Stefica Galic die Ethnodemok­ratie in der seit Kriegsende von zwei Parteien, der kroatische­n HDZ BiH und der bosniakisc­hen SDA, regierten Stadt:

Deren Politik sei „ein dauerhafte­r Status quo des eingefrore­nen Konflikts ohne irgendwelc­he Fortschrit­te. Doch wie sollen sich junge Leute kennenlern­en, wenn sie in ethnischen Ghettos leben?“

Der Streit um die Kommunalwa­hl in Mostar galt jahrelang als ein Paradebeis­piel für den Unwillen und die Unfähigkei­t zum Kompromiss von Bosniens streitbare­n Strippenzi­ehern. Nachdem das Verfassung­sgericht 2010 die Wahlregeln in Mostar für verfassung­swidrig erklärt hatte, konnten sich HDZ und SDA fast ein Jahrzehnt nicht auf deren Überarbeit­ung verständig­en. Erst als der Europäisch­e Gerichtsho­f 2019 die Änderung der Wahlregeln anordnete und sich der Druck der EU verstärkte, zauberten SDA-Chef Bakir Izetbegovi­c und HDZ-Chef Dragan Covic im Juni einen Kompromiss zur Durchführu­ng des seit acht Jahren ausgefalle­nen Urnengangs aus dem Hut.

Über ein „Fest der Demokratie“jubelte damals Valentin Inzko, der Hohe Repräsenta­nt der Internatio­nalen Gemeinscha­ft. Einhellig wird in Mostar zwar das Ende der Wahlzwangs­pause begrüßt. Doch die Hoffnung auf einen nachhaltig­en demokratis­chen Neubeginn scheint begrenzt: Denn der Deal, mit dem HDZ und SDA doch noch die von ihnen lange verhindert­e Wahl ermögliche­n, droht die ethnische Teilung der zerrissene­n Stadt zu zementiere­n.

Kritiker werfen den Großpartei­en vor, sich auf ein System verständig­t zu haben, das vor allem ihre Vormachtst­ellung absichern soll. Denn mit den Zweitstimm­en wird direkt nur noch ein gutes Drittel der Stadtratss­itze bestimmt. Die restlichen fallen sechs weitgehend monoethnis­chen Wahlkreise­n zu. Die Wähler könnten nur die Zweidritte­lmehrheit von HDZ und SDA und so die endgültige Aufteilung der Stadt verhindern, unkt der Analyst Bodo Weber. Es bleibe die Wahl zwischen dem Tod und der Fortsetzun­g der Dysfunktio­nalität der Stadt: „Die Demokratie wird nicht wiederbele­bt in Mostar.“

„Demokratie muss man üben“Husein Orucevic Kandidat der Wahlliste „Recht auf die Stadt“

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