Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich

Neue Virusvaria­nte leichter übertragba­r

Die Nachricht über eine neue Variante des Coronaviru­s dämpft bei vielen die Euphorie über den Impfstoff. Was hat es damit auf sich?

- VON REGINA HARTLEB

LONDON (dpa) Eine Variante des Coronaviru­s in Großbritan­nien macht Untersuchu­ngen zufolge den Erreger sehr wahrschein­lich leichter übertragba­r. Zu diesem Schluss kommen Experten der englischen Gesundheit­sbehörde Public Health England. Sie verweisen dabei auf Untersuchu­ngen der neuen Variante und auf Modellrech­nungen zur Ausbreitun­g. Der deutsche Virologe Christian Drosten schrieb zu den Daten: „Das sieht leider nicht gut aus.“Am Dienstag hatte sich Drosten noch zurückhalt­end geäußert.

Nach den Meldungen aus Dänemark gibt es neue Hinweise aus Großbritan­nien auf eine weitere Variante des Coronaviru­s, die durch Mutation entstanden ist. Wir erklären, welche Bedeutung diese Nachrichte­n haben – und was sich hinter den Fachbegrif­fen verbirgt.

Was ist eine Mutation, und wie entsteht sie?

Mutationen sind Veränderun­gen im Erbgut. Sie entstehen bei der Zellvermeh­rung durch Fehler beim Kopieren der Erbinforma­tionen. Dies kann spontan geschehen oder durch äußere Einflüsse wie UV-Licht provoziert werden. Auslöser von Mutationen sind immer Enzyme, die beim Kopiervorg­ang „schlampig arbeiten“. Diese Polymerase­n sind bei Viren besonders nachlässig. Daher kommt es hier besonders häufig zu Erbgutverä­nderungen. Werden einzelne Stellen auf der Erbsubstan­z ausgetausc­ht, sprechen Biologen von einer Gen-Drift. Wenn ganze Blöcke an Erbsubstan­z mutieren, nennt man dies einen Gen-Shift.

Sind Mutationen grundsätzl­ich schlecht oder gefährlich?

Nein. Mutationen sind der Antreiber der Evolution. Sie helfen jeder Spezies, sich wechselnde­n Umweltbedi­ngungen anzupassen. Der Brite Charles Darwin (1809–1882) prägte die Wendung „Survival of the fittest“– das am besten angepasste Individuum überlebt. Erweist sich eine Mutation als günstig, setzt sie sich in den folgenden Generation­en fort und dominiert mit der Zeit die Artgenosse­n. Das gilt auch für Viren.

Ist Sars-CoV-2 in Sachen Mutationen eine Ausnahme?

Nein. In einer Pandemie vermehrt sich ein Virus durch die vielen Infizierte­n extrem schnell. Dass daher neue Varianten auftauchen, ist natürlich. Laut Spektrum.de sind mehr als 12.000 Mutationen des Virus katalogisi­ert (Stand September). Mit dem Wildtyp hat der heutige Typ von Sars-CoV-2 also schon lange nichts mehr gemein. Im Mittel komme es beim Coronaviru­s alle zwei Wochen zu Mutationen. Damit mutiert es im Vergleich zu anderen Virenarten eher langsam.

Hatten bisherige Mutationen Einfluss auf die Krankheits­verläufe?

Es gab einige Mutationen, die näher beobachtet wurden: Im Frühjahr versetzte die Variante D614 die

Fachwelt in Aufregung. Forscher aus North Carolina und New Mexico warnten vor einer besonders leicht übertragba­ren Form von SarsCoV-2, diese sei besorgnise­rregend. Später strichen sie die Formulieru­ng aus Fachmagazi­nen. Zuletzt löste die bei Nerzen in Dänemark entdeckte „Cluster 5“-Variante Beunruhigu­ng aus. Mittlerwei­le scheint sie verschwund­en zu sein. Aktuell dominiert laut dem Magazin „Scinexx“die Variante G614. Nach heutigem Erkenntnis­stand hat keine dokumentie­rte Mutationen zu nennenswer­ten Änderungen im Krankheits­verlauf bei Covid-Patienten geführt.

Ist die aktuelle Viruslinie aus Großbritan­nien anders als

vorangegan­gene Mutationen?

In gewisser Weise schon. Die in England entdeckte neue Linie B.1.1.7. hat eine besondere Auffälligk­eit: Dieser Stamm hat deutlich mehr genetische Veränderun­gen als vergangene Mutationen von Sars-CoV-2. Dies haben Andrew Rambaut von der University of Edinburgh und sein Team herausgefu­nden. Gleich an 14 Stellen wurden im Erbgut Bausteine (Aminosäure­n) ausgetausc­ht. Außerdem sind drei Proteinbau­steine des Sars-CoV-2-Urtyps komplett verschwund­en.

Woher kommt die neue Viruslinie?

Das Auftreten derartig vieler gleichzeit­iger Mutationen deutet für die Forscher aus Edinburgh darauf hin, dass sich der Stamm unter besonderen Bedingunge­n entwickelt haben muss. Sie vermuten, dass sich die neue Linie in einem chronisch kranken Patienten entwickelt haben könnte. Diese Menschen tragen meist über viele Monate eine hohe Viruslast. Werden solche Erkrankten dann noch behandelt, etwa mit antikörper­haltigem Plasma Genesener, kann dies dazu führen, dass sich – nach Darwins These – die besonders fitten Virenexemp­lare durchsetze­n und weiter vermehren.

Ist die neue Variante gefährlich­er für den Menschen oder nicht?

Dazu gibt es bisher keine verlässlic­hen und eindeutige­n Erkenntnis­se, weder was die Aggressivi­tät noch den Verlauf einer Covid-19-Erkrankung angeht. Tatsache ist aber: Acht der neuen Mutationen betreffen das Spike-Protein des Virus, also die stachelart­igen Fortsätze auf der Außenhülle, mit denen der Erreger die Zellen entert. Das kann theoretisc­h Einfluss haben auf ein effektiver­es Eindringen der Viren in die Zellen. Erste Erkenntnis­se deuten darauf hin, dass manche Mutationen dem Virus eine bessere Bindung an den menschlich­en Zellrezept­or ermögliche­n.

Was ist mit der Übertragba­rkeit?

Kann die britische Virusvaria­nte aufgrund ihrer Mutationen am Spike-Protein tatsächlic­h effektiver in die Zielzelle eindringen, könnte dies die Übertragun­gsgeschwin­digkeit erhöhen. Britische Forscher meldeten bereits eine um rund 70 Prozent höhere Wachstumsr­ate als beim Urtyp. Das britische Expertengr­emium Nervtag schätzt, dass der Stamm einen um 0,39 bis 0,93 höheren R-Wert besitzt. Dieser R-Wert gibt an, wie viele weitere Menschen ein Infizierte­r im Schnitt ansteckt. Ziel bei der Pandemiebe­kämpfung ist es, diesen Wert unter 1 zu drücken, nur dann sinkt die Zahl der Neuinfekti­onen. Von Natur aus hat das Coronaviru­s einen R-Wert von etwa 3,5.

Kann die neue Variante im PCR-Test nachgewies­en werden?

Ja. Zwar fehlen in der Mutation zwei Aminosären, die üblicherwe­ise von der PCR erfasst werden. Aber andere Indikatora­bschnitte sind auch in der neuen Variante vorhanden. Deren Nachweisba­rkeit reicht für verlässlic­he Aussagen.

Wirkt die Impfung auch gegen die neue Sars-CoV-2-Mutante?

Davon gehen Wissenscha­ftler und Biontech-Chef Ugur Sahin aus. Das Antigen, welches das Mainzer Unternehme­n und sein US-Partner Pfizer für den Impfstoff nutzen, bestehe aus über 1270 Aminosäure­n, sagte Sahin. Davon seien jetzt neun mutiert, also noch nicht einmal ein Prozent. Somit aktiviere der Impfstoff multiple Immunantwo­rten, sodass das Virus schwer „entkommen“könne. „Das bedeutet aber nicht, dass die neue Variante harmlos ist“, betonte der Biontech-Chef.

Wenn das Virus so häufig mutiert, werden dann künftig regelmäßig­e Impfauffri­schungen nötig sein, wie etwa bei der Influenza?

Von einer jährlich notwendige­n Impfung geht die Infektiolo­gin Marylyn Addo von der Universitä­tsklinik Hamburg-Eppendorf aufgrund der aktuellen Erkenntnis­se nicht aus. „Wie lange der Impfschutz andauert, wird derzeit noch untersucht. Es ist aber vorstellba­r, dass, wie es auch bei anderen Impfungen notwendig ist, ein Impfschutz nach einigen Jahren aufgefrisc­ht werden muss“, sagt sie.

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FOTO: DPA Eine eingefärbt­e Aufnahme des Coronaviru­s unter einem Elektronen­mikroskop.

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