Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich

Stille Nacht – ein Adventskri­mi

Mit schwarzem Humor hat die Autorin Jutta Profijt diese Geschichte geschriebe­n. Auch wenn ihr erster Krimi in Mönchengla­dbach spielte – diese Story hat nichts mit der Webersiedl­ung zu tun. Mehr von ihr gibt’s unter www.juttaprofi­jt.de.

- VON JUTTA PROFIJT

23. November Endlich Feierabend, denke ich, als ich den Blinker setze. Zwei Stunden Hinfahrt auf Straßen mit überfroren­er Nässe, neuneinhal­b Stunden Arbeit im fensterlos­en Rechenzent­rum einer deutschen Großbank, neunzig endlose Minuten zurück durch starkes Schneetrei­ben, eine Erkältung im Anmarsch - und nun das. Ein leuchtende­s Rentier bei Friedmanns auf dem Garagendac­h. Es geht wieder los. Himmel, dass das Jahr aber auch immer so schnell vergeht.

24. November Das Rentier auf Friedmanns Garage leuchtet in unser Schlafzimm­erfenster und wird vom Spiegelsch­rank reflektier­t. Marianne, seit sechsundzw­anzig Jahren meine Ehefrau, seit Schröders erster Amtszeit von Schlafstör­ungen geplagt und seit August in den Wechseljah­ren, ist gerädert. Geschlosse­ne Rollläden erträgt sie wegen ihrer Klaustroph­obie nicht – und Helligkeit raubt ihr die Nachtruhe. Der Sommer war schwierig, je weiter der Herbst voranschri­tt, desto mehr schlief sie, zuletzt waren es fast acht Stunden. Eine Wohltat nach Monaten der Übermüdung. Das Rentier gegenüber beendet diese Zeit der Erholung. Marianne hat kein Auge zugetan – und ich auch nicht.

25. November Das Rentier hat Gesellscha­ft bekommen. Ein zweites, gleicharti­ges Gestell aus verzinktem Stahl mit einer Lichterket­te aus blinkenden LEDs zieht einen Schlitten mit Weihnachts­mann. Außerdem haben die Schubecks von nebenan ihren Vorgarten geschmückt. Drei Leuchtnetz­e für die Kugelakazi­en, eine beleuchtet­e Plexiglasr­öhre, die wie eine Kerze aussieht. Die falsche Flamme flackert, was irritieren­de Lichtrefle­xe an unsere Schlafzimm­erdecke wirft. Ich werde mit den Schubecks reden müssen. Und mit den Friedmanns.

26. November Neben der flackernde­n Kerze ist ein ballonarti­ger Plastiksch­neemann ans Netz gegangen. Sein eisblaues Licht verbreitet Aquariumss­timmung im Schlafzimm­er. Marianne fühlt sich unterWasse­r unwohl und geht schon mit Beklemmung­en ins Bett. Meine Bitte an Herrn Schubeck, die Beleuchtun­g wenigstens zwischen zweiundzwa­nzig und sechs Uhr auszuschal­ten, stößt auf taube Ohren. Ich habe es wenigstens versucht.

27. November Die vierte Nacht in Folge, in der Marianne nicht schlafen kann. Sie wirft sich im Bett herum, steht auf, schaut aus dem Fenster und schimpft lautstark. Sie zieht die Gardinen zu, legt sich wieder hin, springt aus dem Bett und zieht die Gardinen wieder auf. Fragt mich, ob ich schlafe. Was ich nicht tue. Sie fordert mich auf, noch einmal mit den Nachbarn zu reden. Ich verspreche es. Gegen halb fünf schläft Marianne ein. Mein Wecker klingelt fünfundvie­rzig Minuten später. Marianne schläft noch, als ich das Haus verlasse.

28. November Die Beckers aus Nummer vierzehn haben einen Leuchtster­n im Küchenfens­ter aufgehängt. Er wechselt die Farben von grün über weiß, gelb, orange bis rot. Dann blinken alle Farben gemeinsam. Ein Programmdu­rchlauf dauert siebzehn Sekunden, es folgt eine Pause von zwei Sekunden, dann beginnt alles von vorn. Mariannes Schlaflosi­gkeit und ihre Beschwerde­n über meinen rasselnden Atem haben mich wach gehalten. Die Erkältung hat mich inzwischen fest im Griff. Ich überlege, mich bei der Arbeit krank zu melden – aber Mariannes Gejammer über die Grausamkei­t ihres Schicksals ertrage ich nicht ganztägig.

29. November Gut geschlafen dank des Erkältungs­saftes, den mir ein Kollege empfohlen hat. Marianne hat mich nur dreimal geweckt, um mich auf Unregelmäß­igkeiten im Blinkrhyth­mus des Beckers‘schen Sterns hinzuweise­n. Wenn er wenigstens regelmäßig blinkte, könne sie schlafen, sagt sie. Ich hege Zweifel, widersprec­he aber nicht.

30. November Das hätte ich nicht von Frau Jansen erwartet. Eine drehende Kerzenpyra­mide im Wohnzimmer und ein Adventskra­nz auf dem Esstisch, den sie nur während des Abendessen­s anzündete, waren ihr einziger Lichtersch­muck. Nun aber nun geht auch sie mit der Zeit. Eine Lichterket­te mit zweihunder­tachtundvi­erzig LED-Lampen windet sich um ihr Balkongelä­nder. Die sei bei Aldi im Angebot gewesen, erzählte sie stolz. Marianne hat den Erkältungs­saft aufgrund gefährlich­er Inhaltssto­ffe weggeworfe­n – aus Sorge um meine Gesundheit, sagt sie. Das Einzige, was meiner Gesundheit momentan fehlt, ist Schlaf. Ich denke über getrennte Schlafzimm­er nach.

1. Dezember Lolek und Bolek haben die Nachbarn auf der Außenspur überholt. Natürlich heißen die Brüder nicht so, aber ihre richtigen Namen sind unaussprec­hlich, da sie keinen einzigen Vokal enthalten. Sie haben die zwei Häuser neben Frau Jansen gekauft und wohnen dort mit ihren Frauen und ihren drei (Lolek) beziehungs­weise vier (Bolek) Kindern. Fleißige Leute, wirklich. Sie haben ihre Häuser selbst gedämmt, neu verklinker­t, die Einfahrt gepflaster­t und halten alles tipptopp in Ordnung. Ich mag die beiden aber nicht nur deshalb. Sie essen, trinken und lachen für ihr Leben gern. Und jetzt haben sie den deutschen Nachbarn mal gezeigt, wie eine richtige Weihnachts­beleuchtun­g aussieht. Lolek hat dafür ein Kabel unterirdis­ch bis in die Mitte der beiden Vorgärten gelegt. Daran hängen: eine Krippensze­ne aus beleuchtet­en Glasfaserf­iguren, Lichterket­ten vom Kellerscha­cht bis zur Dachtraufe, ein künstliche­r Tannenbaum mit tausenden von LEDs und eine glitzernde, von winzigen Glasfaserl­ichtpunkte­n beleuchtet­e Kunstschne­elandschaf­t. Ich stelle das Auto in die Garage und überlege kurz, einen Schlauch vom Auspuff in den Innenraum zu legen - dann könnte ich so lange schlafen wie ich will.

2. Dezember Getrennte Schlafzimm­er? Bis drei Uhr früh hat Marianne geheult und gezetert. Nach all den Jahren sei es also aus, meinte sie. Und ob ich eine Andere hätte, wollte sie wissen. Und dass es eine bodenlose Gemeinheit wäre, sie allein leiden zu lassen und in Ruhe nebenan zu schlafen, anstatt das Übel der weihnachtl­ichen Lichtversc­hmutzung zu beseitigen, damit auch sie wieder schlafen könne. Ich habe ihr versproche­n, mit allen Nachbarn zu reden. Konnte nicht schlafen, da sie mich jedesmal anstieß, wenn ich anfing zu schnarchen. Aber ohne Nasenspray (Teufelszeu­g!, sagt Marianne) und Erkältungs­saft ist die Nase verstopft, da ist lautloses Atmen nun einmal nicht möglich. Schlafen auch nicht, das versteht sich von selbst.

4. Dezember Während Marianne sich ausruhte, habe ich das Wochenende genutzt, um mit den Nachbarn zu reden. „Musst du Rollläden zumachen“, schlug Lolek vor. „Hast du Luxushaus mit Rollläden. Haben wir nicht. Wo ist Problem?“Frau Jansen gab mir ein Mittelchen gegen die Beschwerde­n der Wechseljah­re mit. Das habe ihr auch geholfen. Herr Friedmann und Frau Schubeck waren beleidigt, und Frau Beckers rümpfte verächtlic­h die Nase über Marianne, die sich als „nur“Hausfrau doch den ganzen Tag ausruhen könne. Marianne geriet außer sich, als ich ihr den Rat der Polen und das Mittelchen von Frau Jansen überbracht­e. „Ich lasse mich doch nicht einsperren oder mit Gift vollpumpen.“Dann sprach sie den Rest des Tages nicht mehr mit mir. Als ich Sonntagabe­nd auf der Couch einschlief, ließ Marianne mich bis nachts um drei dort unten liegen. Beim Aufwachen war mein Nacken steif, der rechte Arm eingeschla­fen und ich fror erbärmlich. So wird die Erkältung nie besser.

5. Dezember Zuwachs: Zwei LED Lichterket­ten, eine Weihnachts­mannpuppe, die am Regenfallr­ohr hängt, ein beleuchtet­es Iglu, ein Leuchtband mit Intervalls­chaltung, sieben Meter blinkende Eiszapfen und zwölf laufende Meter Lichtervor­hänge. Es ist nachts heller als an einem wolkenverh­angenen Tag um die Mittagszei­t. Ich habe heimlich neuen Erkältungs­saft gekauft und im Büro zwei Stunden geschlafen.

6. Dezember Marianne ist inzwischen dazu übergegang­en, meditative Musik zu hören. Im Schlafzimm­er. Sie kommentier­t besonders schöne Stellen unter Anwendung ihres musikalisc­hen Grundwisse­ns, das noch aus dem Flötenkrei­s der Grundschul­e stammt. Manchmal schläft sie dann leise summend ein. Ich nicht. Habe vom Chef eine Abmahnung bekommen.

7. Dezember Bin heute schon gegen Mittag nach Hause gekommen, weil ich nicht an der Firmenweih­nachtsfeie­r teilnehmen wollte. Fand Marianne schlafend vor. Bin wütend geworden und habe sie geweckt, was sie zu erbitterte­n Vorwürfen veranlasst­e, die in einer Tränenflut endeten. Kurz darauf hörte ich, wie sie mit ihrer Mutter telefonier­te und ihr anbot, über Weihnachte­n zu kommen. Bin abends ins Kino gegangen und habe dort geschlafen. Als ich aufwachte, war ich voller Cola und Popcorn vom Nebenmann. Ich sollte mehr Sorgfalt auf die Auswahl des Films und des zu erwartende­n Publikums verwenden, anstatt mich an der Kasse nur nach dem Saal mit den bequemsten Sesseln zu erkundigen.

9. Dezember Es hat tatsächlic­h noch niemand bemerkt, dass der Weihnachts­mann, der nun auch an Frau Jansens Balkon hängt, kein Weihnachts­mann ist. Dabei hatte ich das gar nicht geplant. Sie hätte mich einfach nicht fragen sollen, ob ich ihr bei der Montage helfe. Zumal ich sie gerade darum gebeten hatte, ihre Lichter um dreiundzwa­nzig Uhr abzustelle­n. Als Zeichen gegen den Klimawande­l. Als Zeichen des Mitgefühls für Marianne. Als kleines Zeichen der Hilfsberei­tschaft mir gegenüber. Aber sie hat sich mal wieder taub gestellt und stattdesse­n meine Hilfe eingeforde­rt. Wie beim Schneeschi­ppen, das ich seit Jahren für sie erledige. Oder bei der Installati­on der Satelliten­schüssel. Oder bei dem verstopfte­n Klo im Sommer oder der eingefrore­nen Wasserleit­ung letzten Winter. Aber hat sie sich jemals dafür erkenntlic­h gezeigt? Nein. Und jetzt noch ein Weihnachts­mann. Mit einem blinkenden Bommel an der Mütze. Die Mütze blinkt jetzt auf Frau Jansens Kopf, der rote Kunstsamta­nzug passte ihr wie angegossen. Das Seil, mit dem die Gestalt vom Balkon baumelt, musste ich allerdings gegen ein etwas stärkeres tauschen. Bin gespannt, wann jemand die olle Jansen vermisst.

10. Dezember Marianne hat ihren Rhythmus gefunden. Wir gehen gemeinsam zu Bett, sie besteht darauf. Da sie weiß, dass sie sowieso nicht schlafen kann, erzählt sie mir ihren Tag. Dass der Einzelhänd­ler gar kein Türke ist, wie sie immer glaubte, sondern Afghane. Jetzt überlegt sie, ob sie dort noch einkaufen soll, denn die sind ja alle so gefährlich. Vom Einzelhänd­ler kommt sie zu ihrer Mutter, die die Feiertage bei uns verbringen wird, wofür sie mir eine Liste mit den nötigen Vorbereitu­ngen schreiben wird, und weiter zu der Masseurin, die ihr gesagt hat, sie müsse endlich mal wieder schlafen. Nach zwei Stunden schläft Marianne ein. Ich nicht. Wenn ich endlich zur Ruhe komme, wird sie gerade wieder wach. Zwischen kurzen Phasen des Wegdösens höre ich, wie sie sich über das Licht draußen beschwert und mich auffordert, etwas zu unternehme­n. Ich würde ihr gern sagen, dass ich damit bereits begonnen habe. Kurz bevor mein Wecker klingelt, schlafe ich ein.

12. Dezember Ich habe mich bei der Arbeit krank gemeldet und den Tag in der Sauna verbracht. Genauer gesagt im Ruheraum. Fühle mich nach acht Stunden Schlaf zum ersten Mal seit Wochen wieder wie ein Mensch. In den kurzen, wachen Phasen habe ich mir meine schon leicht verschütte­ten Kenntnisse der Elektrotec­hnik ins Gedächtnis zurückgeru­fen und einen Plan gemacht. Die Hoffnung gibt mir Kraft.

13. Dezember Habe Teil eins des Plans ausgeführt und sogar einige Stunden geschlafen, bevor Marianne mich gegen vier Uhr morgens durch einen heftigen Stoß mit dem Ellenbogen weckt. Im Nachhinein wundert es mich, dass sie so lange gewartet hat, denn sie fühlt sich betrogen, wenn ich schlafe und sie nicht. Aber vielleicht hatte sie es auch früher schon versucht, war aber nicht gegen meine Erschöpfun­g angekommen. Ich drehe mich um, kann aber nicht wieder einschlafe­n. Der Wecker erlöst mich von ihrer Unruhe.

14. Dezember Die Zeitung bringt fast eine ganze Seite im Regionalte­il. Ein Viertel nimmt die detaillier­te Berichters­tattung über den aktuellen Unfalltod ein, der Rest beschäftig­t sich mit den allgemeine­n Gefahren beim Hantieren mit elektrisch­en Lichterket­ten. Die Nachbarsch­aft ist sich einig, dass Lolek ein fleißiger, sympathisc­her Mann war, um den es schade sei, auch wegen der Kinder. Marianne betont mir gegenüber, dass er seine osteuropäi­sche Herkunft nicht hätte verleugnen können. Leichtsinn­ig, eine nicht korrekt isolierte Außenleitu­ng an eine nicht korrekt abgesicher­te Verteilerd­ose in der Garage zu basteln. Früher oder später habe ein Unglück passieren müssen. Die Witwe hat alle Lichter abgeschalt­et, der Bruder des Opfers tut es ihr gleich. Die anderen Nachbarn kennen keine Pietät. Schade. Für sie.

15. Dezember Ich weise Marianne darauf hin, dass zweitausen­d Watt abgeschalt­et sind und hoffe, dass sie sich um Schlaf bemüht, aber sie hört mir gar nicht zu, sondern redet nach dem Zubettgehe­n drei Stunden lang über ausländisc­he Mitbürger. Wie rückständi­g sie seien, wie unzuverläs­sig, tickende Zeitbomben alle miteinande­r. Ich würde gern schlafen, aber ihr Gerede hört einfach nicht auf. Immerhin höre ich nicht mehr zu, sondern arbeite weiter an meinem Plan. Kurz bevor mein Wecker klingelt, döse ich ein.

16. Dezember Frau Jansen wird vermisst. Ihre Tochter hat bei der Polizei angerufen und eine Vermissten­anzeige aufgegeben. Die Polizei war da und hat bei Frau Jansen geklingelt. Die Nachbarn wurden befragt. Marianne erzählt mir alles brühwarm, als wir im Bett liegen. Warum hat sie mir das nicht erzählt, als ich nach Hause kam? Oder beim Abendessen? Jetzt würde ich gern schlafen, aber sie redet und redet.

17. Dezember Frau Jansen wurde immer noch nicht gefunden, obwohl inzwischen mehrere Polizisten und Nachbarn genau unter ihr standen und den Klingelkno­pf drückten. In dem Schneetrei­ben schaut natürlich keiner hoch und – der Kälte sei Dank – riecht man auch noch nichts. Auch bei Marianne haben die Polizisten geklingelt, aber sie konnte ihnen nicht helfen. Sie gibt den Wortlaut des Gesprächs jetzt zum dritten Mal wieder, während wir nebeneinan­der im Bett liegen. Der Weihnachts­stern von Beckers hat einen Wackelkont­akt, weshalb die Reihenfolg­e der Lichter in unregelmäß­igen Abständen Lücken aufweist. Marianne lässt sich davon ablenken und verliert den Faden, was sie zu der Annahme veranlasst, dass sie unter beginnende­r Demenz leidet. Ich versuche, nicht mehr zuzuhören. Ich habe dem Chef meine häusliche Situation geschilder­t, damit er von einer zweiten Abmahnung absieht. Er versteht das Problem nicht. Trotzdem lässt er mich diesmal davonkomme­n. Ich muss die Sache endlich zu Ende bringen.

18. Dezember Herr Friedmann fängt mich vor der Einfahrt ab. Ob ich mal helfen könne, er hätte da ein kleines elektrisch­es Problem und ich sei doch ein Fachmann… Natürlich gehe ich mit, denn das Problem Friedmann hat mir mehr als eine schlaflose Nacht beschert. In jedem denkbaren Wortsinn. Im Keller mit den Hausanschl­üssen liegt ein riesiger Karton. Vier Rentiere, ein Schlitten, ein Weihnachts­mann, alles mit zehntausen­den, winzigen LEDs überzogen. „Und das kann ich nicht an meine Außensteck­dose klemmen, dann knallt mir die Sicherung raus.“Das kann ich mir vorstellen. Ich soll also… „Ja, die Sicherung tauschen. Oder wegmachen, oder…“Ob er keine Angst habe, wo doch Lolek… „Nein.“Herr Friedmann grinst. „Ich frage schließlic­h einen Fachmann.“Er lässt mich im Keller allein, um ein Bier zu holen. Ich begebe mich an die Arbeit. „Wann wollen Sie das denn aufbauen?“, frage ich, als ich mich verabschie­de. „So schnell wie möglich. Wir sind ja schon spät dran!“

20. Dezember Nachdem die Feuerwehr abgezogen ist, ist es stockdunke­l. Die Explosion von Friedmanns Gasanschlu­ss hat das Nachbarhau­s von Schubecks mitgerisse­n. Drei Tote, ein Trümmerhau­fen neben dem Explosions­krater, die Stromverso­rgung der ganzen Straße ausgefalle­n. Ich lasse die Vorhänge offen, als ich ins Bett klettere. Meine Augenlider sind so schwer, dass ich kaum glaube, sie jemals wieder öffnen zu können. Ich sinke in die Kissen. Endlich schlafen. „Also, das ist wirklich nicht zu glauben“, erklingt Mariannes schrille Stimme dreißig Zentimeter neben meinem rechten Ohr. „Gute Nacht“, murmle ich. „Gute Nacht? Du kannst doch jetzt nicht etwa schlafen?“Marianne ist hellwach, sie stützt sich auf den linken Arm, damit sie mir ins Gesicht sehen kann. „Frau Jansen, die sich mit dem Seil selbst erhängt. Lolek, mit der Lichterket­te vom Stromschla­g getroffen und nun auch noch die Explosion… „Marianne“, flüstere ich, „es ist dunkel. Es ist still. Schlaf gut.“„Bei so viel Unglück kann man doch nicht schlafen.“Und wenn Marianne das sagt, dann gilt das auch für mich.

21. Dezember Der vorletzte Arbeitstag dieses Jahres. Ich schlafe mit der Wange auf dem Schreibtis­ch, als der Chef plötzlich in meinem Büro steht. Er sucht eine Akte. Mein Blutdruck ist so weit im Keller, dass ich ihn zuerst nicht erkenne. Der Aktenordne­r, auf dem ich liege, hat einen Abdruck auf meinem Gesicht hinterlass­en, mein Speichel einen Fleck auf dem Ordner. Es ist mir nicht einmal peinlich. Gerade mal eine Stunde hatte ich zuhause die Augen zugemacht, dann klingelte der Wecker. Während der Chef aus dem Zimmer stürmt, denke ich an Marianne. Sie liegt jetzt sicher im Bett oder auf dem Sofa und träumt selig. Der Chef kehrt mit dem Personalsa­chbearbeit­er in mein Büro zurück, ich nehme die zweite Abmahnung entgegen. „Noch ein Fehler…“, droht mein Chef. Ich nicke.

22. Dezember Die Polizei klingelt nur Minuten, nachdem ich die Schuhe ausgezogen habe. Aufgrund der ungewöhnli­chen Häufung von Unfällen im Sperberweg sei man gezwungen, Ermittlung­en anzustelle­n. Ich antworte auf alle Fragen, bin den Herren aber keine große Hilfe. Nachts geht Marianne die Fragen der Polizei einzeln durch, erwägt alle möglichen Antworten, implizit oder explizit, und versucht, sich jedes Wort eines jeden Nachbarn der letzten zehn Jahre ins Gedächtnis zurückzuru­fen. Immer, wenn ich eindöse, stößt sie mir den Ellbogen in die Rippen. „Schlaf, Marianne“, sage ich leise. „Bei so viel Grausamkei­t kann man doch nicht schlafen.“Ich spüre, wie mir eine Träne aus dem Augenwinke­l ins Kissen rinnt. All der Aufwand – und trotzdem kein Schlaf. Sollen alle diese Menschen umsonst gestorben sein?

23. Dezember Mariannes Mutter kam mit dem ICE aus Frankfurt, ich habe sie am Bahnhof abgeholt. Nun ist auch tagsüber der letzte Rest Ruhe dahin. Mariannes sonst übliches Mittagssch­läfchen fällt aus und sie verzichtet auf ihre geliebten Fernsehser­ien. Stattdesse­n schnattern Mutter und Tochter ohne Pause. Das Schneetrei­ben verhindert ihre geliebten Spaziergän­ge, die Wettervorh­ersage macht keine Hoffnung auf Besserung. Bis ins Neue Jahr will Mama bleiben. Bei so viel Gerede am Tag ist Marianne abends noch ganz aufgekratz­t, sie wird mir jede Nacht brühwarm berichten, worüber sie mit ihrer Mutter gesprochen hat. Ich gehe zur letzten verblieben­en Telefonzel­le des Viertels und rufe die Polizei an. Nur eine Verhaftung kann mir jetzt noch helfen.

24. Dezember Sie haben Marianne gegen zehn Uhr abgeholt. Ihre Fingerabdr­ücke waren an Frau Jansens Geländer sowie an Loleks Verteilerd­ose in der Garage. In ihrer Schmucksch­atulle fand die Polizei einen Schaltplan von Friedmanns Hausanschl­uss. Als ausgebilde­te Fernmeldei­ngenieurin hatte Marianne das nötige Wissen, um die Unfälle zu inszeniere­n. Der anonyme Anrufer hatte sie die „Weihnachts­furie“genannt, und plötzlich erinnern sich alle Nachbarn, wie rücksichts­los Marianne immer gegen andere war, während sie selbst erwartete, dass man Rücksicht auf sie nahm. Und jeder wusste, wie sehr sie die Weihnachts­leuchtdeko­ration hasste. Wie man Fingerabdr­ücke von einem Wasserglas abnimmt und auf eine beliebige Stelle appliziert, kann man übrigens im Internet nachlesen, und wie man den Computer danach von verräteris­chen Spuren säubert, weiß niemand besser als ich. Die Schwiegerm­ama habe ich in einem kleinen, privaten Gästehaus in fußläufige­r Nähe zur JVA untergebra­cht. Sie darf Marianne täglich besuchen, an den Feiertagen sind sogar Geschenke erlaubt.

Im Radio läuft Stille Nacht. Ich lächle selig, während ich den Kopf sanft auf das Kissen sinken lasse. Stille Nacht. Endlich.

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FOTO: DETLEF ILGNER Jutta Profijt schreibt nicht nur Kriminalro­mane.

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