Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich
Die Angst vor Vereinsamung nimmt zu
Kontaktbeschränkungen erschweren die Hilfen für Menschen mit seelischen Problemen. Das merken Stephan Rinckens, Ärztlicher Direktor der LVR Klinik, und Dieter Schax, Geschäftsführer des Vereins für die Rehabilitation psychisch Kranker, in ihrem Alltag.
Gibt es derzeit besondere Hilfsangebote?
Schax Wir waren in der Lage, unsere Arbeit auf die veränderten Anforderungen unserer Klientinnen und Klienten umzustellen. Eine besondere Hilfe war die Versorgung mit Essento-go. Einigen Nutzern und Nutzerinnen, die sich gar nicht mehr aus dem Haus wagten, haben wir auch eine Art Essen auf Rädern angeboten. Auch haben wir versucht, Gruppenangebote online durchzuführen. Das ist aber nicht so einfach, da viele nicht über die nötige Hardware und Technik verfügen.
Herr Rinckens, welche Veränderungen nehmen Sie im Verhalten Ihrer Patienten wahr?
Rinckens Die Veränderungen in der Lebenssituation sind auch für unsere Patientinnen und Patienten durch den Lockdown und die mit Unsicherheit immer verbundenen Ängste dramatisch. Wir haben zwar in der Klinik aktuell viel weniger Patienten. Das heißt aber nicht, dass die Menschen jetzt gesünder sind oder weniger Hilfe benötigen. Im Gegenteil! Die Menschen ziehen sich infolge der Ängste eher zurück, vermeiden den Kontakt, sind verunsichert und brauchen mehr und aktivere Unterstützung, um die oft notwendige Behandlung auch aufsuchen und annehmen zu können.
Schax Je länger die Krise dauert, nimmt die Angst vor Kontaktverlust und Vereinsamung zu. Viele Menschen, die sich anfangs von sich aus isoliert und abgeschottet haben, wurden vorübergehend nur noch telefonisch erreicht. Nach einiger Zeit verdeutlichen sie aber, dass eine solche Art von Kontakt zwar vorübergehend besser als nichts ist, sie aber den persönlichen Kontakt benötigen, um langfristig stabil zu bleiben. Und an solchen Punkten brauchen wir Möglichkeiten, die Arbeit flexibel auf diese Bedarfe einzustellen.
Welche Schwierigkeiten belasten Ihre Arbeit?
Rinckens Aus Erfahrung wissen wir, dass die Begegnung in einer Gruppe und die Erfahrung der Solidarität, mit unserem manchmal ängstigenden Erleben nicht allein zu sein, zur gegenseitigen Unterstützung und zur Gesundung besonders wichtig sind. Die Möglichkeit zur Begegnung in einer Gruppe ist ein wichtiger Bestandteil einer Behandlung in unserer Klinik. Durch die wichtigen und richtigen Abstandsregeln wird diese so wichtige Erfahrung erschwert. Zu dem Risiko der Einsamkeit infolge der psychischen Erkrankung kommt das Risiko der Isolation durch Lockdown, Abstandsregeln und die beschriebenen Ängste hinzu. Wir können uns nicht so einfach in Gesprächsgruppen oder informellen Gruppen treffen, zusammen Sport machen oder auch nur gemeinsam essen. Da braucht es viel Engagement und Ideenreichtum, um solche Erfahrungen trotzdem möglich zu machen.
Herr Schax, wie empfinden Sie die seelische Belastung durch die Pandemie?
Schax Unsere Klientinnen und Klienten sind schon durch ihre Erkrankung häufig in einem seelischen Ausnahmezustand. Die Anspannung nimmt in den geschilderten Situationen erheblich zu. Gleichzeitig gibt es eine nicht zu unterschätzende Anspannung bei den Beschäftigten. In den Medien wird regelmäßig über die Belastungen des Pflegepersonals in Krankenhäusern berichtet. Ähnliches erleben auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen in Heimen und im Lebensalltag unterstützen. Sie sind vor ständig neue Herausforderungen gestellt, einerseits, um die Kontakte zu den Betroffenen nicht abreißen zu lassen, andererseits aber auch, um sich vor Ansteckung mit dem Coronavirus zu schützen. Im Bereich der Eingliederungshilfe und der sozialen Teilhabe, und das ist der überwiegende Teil unserer Tätigkeit, gibt es nicht ansatzweise eine ausreichende Versorgung mit Schutzmaterialien. Trotzdem finden Kontakte statt und alle sind aufgefordert, kreative Lösungen zu finden, wie diese Begegnungen gestaltet werden können.
Welche gesellschaftlichen Herausforderungen sehen Sie?
Rinckens Unsere Begegnungskultur verändert sich. Digitaler Unterricht,
Home Office und Videokonferenzen ermöglichen uns, trotz Kontaktreduktion im Austausch zu bleiben, und beschleunigen den digitalen Fortschritt. Andererseits bleibt der direkte persönliche Kontakt aus. Die realen Begegnungen in Gruppen – in Familie, Kindergarten, Schule, Freundeskreis,
Verein – sind aber wichtige Erfahrungsräume. Es wird darauf ankommen, dass wir schon jetzt unter den Abstandsregeln und dann auch nach der Pandemie wieder Schritte aufeinander zu machen und uns diese Erfahrungsräume erhalten beziehungsweise wieder neu erschließen. Ein zweiter
wichtiger Aspekt ist, dass wir die sich ständig wandelnden Anforderungen an uns und unsere Bedürfnisse miteinander ausbalancieren. Diese Fähigkeit zum Ausbalancieren, unsere Resilienz, trägt unsere seelische Gesundheit. Das gilt nicht nur für jeden einzelnen von uns, sondern auch für uns alle als Gesellschaft.