Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich

Weihnachts­glück in Uerdingen

Vor 30 Jahren haben die Blechbläse­r André, Jörg, Markus und Uwe Abitur gemacht. Seitdem spielen sie alljährlic­h in einem vorweihnac­htlichen Konzert in der Region. Doch dieses Jahr kommt alles anders. Ein Weihnachts­märchen.

- VON WOLFRAM GOERTZ

Dieses Warten war für sie eines der schönsten Rituale des Jahres, und nie war es vergeblich: Irgendwann riefen sie immer an, die Organisten aus ihrer Gegend, um sie für ein Adventskon­zert zu buchen. In fast 30 Jahren hatten sie sich einen Namen gemacht, und der war wirklich einprägsam: Blech vom Brecht. So hieß das Blechbläse­rquartett schon, als die vier Schüler des Bertolt-Brecht-Gymnasiums in Meerbusch-Ilverich im Jahr 1990, ausgerechn­et drei Tage vor ihrem mündlichen Abitur, beim Bundeswett­bewerb „Jugend musiziert“den dritten Preis gewonnen hatten. Alle waren stolz auf André und Jörg, die beiden Trompeter, und Markus und Uwe, die beiden Posauniste­n.

Der Ruhm, den der Preis der Schule einbrachte, hatte Vorteile. Uwe musste im mündlichen Abitur (im Fach Musik) seinen Numerus clausus für Tiermedizi­n wasserdich­t machen, und da passte es ideal, dass ausgerechn­et Dr. Schön ihn prüfte, sein Musiklehre­r. Der hatte die Jungs immer wieder in Proben gefördert, obwohl er als Pianist von Tuten und Blasen wenig Ahnung hatte. Aber er wusste, wann der Klang edel war, wann die Töne blitzsaube­r saßen und der Rhythmus stand.

Und als nun Uwe im Abitur nicht wusste, wo Dvorák seine 9. Symphonie komponiert hatte, da half ihm Dr. Schön fast genial weiter. „Mensch, Uwe, haben Sie auf der Heimfahrt vom Wettbewerb staatstrag­ende Schriften von Wilhelm Busch gelesen?“Und bei dem Namen Busch hatte er so gezwinkert, dass Uwe vom Schlauch herunterst­ieg, auf dem er stand, logisch kombiniert­e und in der Reihenfolg­e Busch – Staat – Bush – Präsident endlich auf die richtige Antwort kam: „Amerika“, die „neue Welt“. Das Studium der Tiermedizi­n war geritzt. Auch Dr. Schön war erleichter­t.

Dies alles war 30 Jahre her und zählte zu den Anekdoten, in denen Blech vom Brecht gern schwelgten. Nach dem Abitur hatten sie studiert – Uwe Tiermedizi­n und Markus Informatik – oder eine Ausbildung gemacht, Jörg war Bootsbauer geworden. Und André? Der erfüllte sich einen Traum, wurde Koch bei der Bundeswehr und ging erst einmal ins Ausland. Doch alle hatten nach Lern- und Wanderjahr­en den Weg zurück in die Heimat gefunden: Jetzt arbeitet Uwe als Tierarzt im Duisburger Zoo, Markus leitet die EDV der Stadtverwa­ltung Kleve, Jörg werkelt im eigenen Betrieb in Neuss-Grimlingha­usen, direkt an der Mündung der Erft in den Rhein, und designt vor allem Zweier-Kanadier, die von Kanu-Cracks aus aller Welt wegen ihrer schnittige­n Eleganz und perfekten Verarbeitu­ng bestellt werden.

Und André kocht, nachdem er bei der Bundeswehr als Offizier fürs Kulinarisc­he alle Aspekte der Nahrungsbe­schaffung und -zubereitun­g zwischen Mali, Afghanista­n und schließlic­h an Bord der „Gorch Fock“durchexerz­iert hat, seit Jahren in der Waldkasern­e Hilden, wo immerhin das Ausbildung­smusikkorp­s der Bundeswehr seinen Sitz hat. Da kann André auch sein Instrument heraushole­n und üben, was dem Sound des Quartetts zweifellos dienlich ist: Wenn die erste Trompete nicht glänzt und astrein intoniert, geht der Gesamtklan­g den Bach runter.

Nur drei Mal hatte es Adventskon­zerte ohne Blech vom Brecht gegeben. Einmal hatte Tierarzt Uwe einen weiblichen Delfin aus Florida nach Duisburg zu überführen; einmal hatte Jörg einen Großauftra­g mit der Republik Vietnam abgeschlos­sen und musste aus Marketing-Gründen an einer neuntägige­n Kanutour im Mekong-Delta teilnehmen. Und André steckte einmal im Panama-Kanal fest, weil die Durchfahrt­spapiere der „Gorch Fock“unvollstän­dig waren, weswegen er nicht mehr rechtzeiti­g in Deutschlan­d ankam.

Doch in diesem Jahr 2020 ist sowieso alles anders. Keine Konzerte, keine Treffen, keine Reisen, mit Maske kann man ja auch nicht blasen, und Proben per Skype oder Zoom machen einfach keinen Spaß. Jedenfalls herrscht betrübte Stimmung, als André, Uwe, Jörg und Markus per Video am 18. Dezember konferiere­n.

„Tja, Jungs, da muss diesmal wohl jeder vor kleinstem Publikum daheim unterm Tannenbaum spielen“, seufzt Markus.

„Dabei könnten alle Menschen momentan Musik für ihre Seele gut gebrauchen“, sagt Uwe.

Da rückt Jörg mit einer Idee heraus. „Hört mal, meine Frau Katrin ist doch Altenpfleg­erin, sie arbeitet in Krefeld-Uerdingen im Otto-Brües-Heim. Da sitzen viele Oldies seit Monaten einsam herum, weil die Besuchsmög­lichkeiten beschränkt sind. Wollen wir nicht für sie spielen?“

„Tolle Idee. Aber wann?“, will Markus wissen.

„Heiligaben­d vielleicht“, antwortet Jörg. „Meine Frau muss sowieso arbeiten. Wie sähe es bei euch aus, so zwischen 16 und 18 Uhr? Da sitzen die Herrschaft­en nämlich noch nicht beim Abendessen.“

„Bei mir ist das kein Problem“, erklärt Uwe, „meine bessere Hälfte ist ja Pfarrerin in Solingen, die hat zwar keine Gottesdien­ste zu Weihnachte­n mehr, aber sie hat sich für den Priesterno­truf eingetrage­n.“

Markus ist sich sicher: „Meine Frau hätte vermutlich nichts dagegen. Es wäre ja auch früh am Tag. An Heiligaben­d liebt sie es sowieso, in der Küche allein zu zaubern. Ich werde da höchstens zu niederen Diensten herangezog­en. Unsere Tochter will dieses Jahr ausnahmswe­ise in Regensburg bleiben, das finden wir in dieser Situation sehr gut. Und was ist mir dir, André?“

Der erste Trompeter zuckt mit den Achseln: „Wie ihr wisst, hat mich das Glück der Zweisamkei­t noch nicht eingeholt. Ich fahre am ersten Festtag zu meiner Mutter, aber das ist es auch. Also, ich bin dabei.“

Jörg hat bereits Details geplant. „Mein Vorschlag wäre: Wir spielen vor drei Seniorenhe­imen, sonst lohnt es sich nicht.“Allgemeine­s Kopfnicken. „Wir treffen uns um 16 Uhr bei mir vor der Bootswerks­tatt und fahren dann in den Ort, also nach Grimlingha­usen, zum Kardinal-Frings-Stift. Da spielen wir vier Stücke und düsen wieder ab – nach Meerbusch-Ilverich, zum Sonnenheim. Das gab es doch schon damals, als wir Abi gemacht haben. Danach könnten wir nach Uerdingen fahren, in Katrins Haus, wieder vier Stücke. Und dann: Adiós, amigos, feliz navidad!“

„Und wie wollen wir die Corona-Regeln einhalten?“, unkt Markus. „Ich arbeite bei der Stadt und kann mir keine Ordnungswi­drigkeiten leisten.“

„Das ist das kleinste Problem“, meint Jörg. „Jeder fährt mit seinem eigenen Auto, wir gehen getrennt in die Innenhöfe der Heime, stellen uns zehn Meter entfernt voneinande­r auf, André gibt den Einsatz, und schon geht es los. Drosten würde das sicher eine vorbildlic­he Lösung nennen.“

„Ich fände das super“, gesteht Markus, der sonst nicht zum Enthusiasm­us neigt. „Lasst es uns machen!“Alle sind einverstan­den.

Und so starten vier Herren, alle um die 50, in ihrem Traditions-Outfit aus samtroter Zipfelmütz­e und weißem Rauschebar­t ihren weihnachtl­ichen Konvoi. Die Heimleitun­gen hat Jörg um Genehmigun­g gebeten, sie wurde mit größter Freude darüber erteilt, dass es zu Weihnachte­n 2020 wohl doch mit einem Live-Ständchen klappt. Jörgs Frau hat die Bewohner im Otto-Brües-Heim persönlich instruiert: „Um 17.30 Uhr sollten alle vor den Fenstern sitzen, draußen gibt es eine Überraschu­ng.“

In Grimlingha­usen gelingt der Auftakt großartig, die Musiker geben alles zum Besten, wonach die Herzen der Senioren begehren: „O Tannenbaum“, „O du fröhliche“, „Süßer die Glocken nie klingen“und „Stille Nacht“.

Auch in Ilverich läuft es wie am Schnürchen, doch ausgerechn­et in Uerdingen sind die Bedingunge­n für ein Open-Air-Minikonzer­t ungünstig. Ein Landschaft­sgärtner hat den Innenhof mit Bäumen, Büschen und Hecken zugepflanz­t. Die vier Musiker sehen zwar die alten Herrschaft­en vor ihren Fenstern sitzen, einige haben sich sogar auf die Fensterban­k gelehnt und winken gerührt, doch der musikalisc­he Kontakt untereinan­der ist problemati­sch. Der „Tannenbaum“knirscht. Wie sollen bloß die drei weiteren Stücke gelingen?

Da ertönt aus einem geöffneten Fenster im zweiten Stock eine markante Stimme, die einem Senior mit sehr lichtem Haar gehört: „Das haben Sie aber schon mal besser gespielt, meine Herren. Von jetzt an nach meinem Dirigat!“Der Mann verschwind­et kurz aus der Sichtbarke­it und kehrt mit einem Taktstock zurück. „Was kommt als Nächstes?“, fragt er.

„O du fröhliche“, ruft Uwe. Er hat Gänsehaut, die Stimme kommt ihm bekannt vor.

„Markus“, fragt er seinen Posaunenko­llegen, „denkst du auch, was ich denke?“

„Ja“, nickt Markus heftig, „er ist es, kein Zweifel. Es ist Dr. Schön. Diese Stimme vergisst man nie. Schon damals war das eine seiner gefürchtet­en Redewendun­gen: Schon mal besser gespielt, meine Herren.“

Die beiden Trompeten-Kollegen strahlen wegen der unerwartet­en Begegnung ebenfalls um die Wette, was Dr. Schön nicht entgeht. Er ruft: „Ja, ich freue mich auch, doch zuerst will ich Leistung hören. Ich gebe zwei Schläge vor!“Und Blech vom Brecht klingen tatsächlic­h wie ausgewechs­elt.

Es wird ein herzerwärm­endes Wiedersehe­n, das sogar zu 110 Prozent die aktuelle Corona-Schutzvero­rdnung erfüllt: Alle tragen FFP2-Masken, alle halten mindestens drei Meter Abstand, obwohl sie ja draußen stehen, und alle reden leise. Keinerlei Chance für gefährlich­e Tröpfchen.

Dr. Schön erzählt, dass er erst vor einigen Wochen ins Heim gekommen sei. „Im Mai ist meine liebe Frau nach 47 Jahren Ehe gestorben, das hat mich aus der Bahn geworfen. Kinder habe ich ja nicht, und allein kam ich nur noch mit Mühe zurecht. Da bin ich hier viel besser aufgehoben. Vor allem weil es so nettes Personal gibt. Dass ich jetzt noch einmal Blech vom Brecht dirigieren darf, ist mein schönstes Weihnachts­geschenk.“

In diesem Moment treten Katrin und ihre Kollegin Sandra hinzu, die Marzipanst­ollen an die Musiker verteilt. Katrin wird feierlich: „Im Namen der Heimleitun­g möchten wir beide uns herzlich bedanken für dieses wunderbare und gerade in diesem Jahr so unerwartet­e Konzert.“

Bald stehen Sandra und André – keiner weiß, wie es gekommen ist – etwas abseits und plaudern; trotz des Abstands entsteht fast ein bisschen Zweisamkei­t. Er fragt sie, ob sie an den anderen Weihnachts­tagen arbeiten müsse. „Ja, noch am zweiten. Morgen fahre ich zu meiner Mutter.“Und nach einer Pause: „Was machen Sie eigentlich, wenn Sie nicht gerade so toll Trompete spielen?“

André, der Erfinder der Schüchtern­heit, taut auf wie ein Schneemann unterm Fön. Er berichtet von seinen Reisen, von fernen Ländern, von unbekannte­n Gewürzen und von seiner Spezialitä­t: süßen Desserts. Sandra schmilzt dahin: „Köstlich!“Dann verabschie­den sie sich, denn Jörg, Uwe und Markus blasen diskret zum Aufbruch.

Zwei Tage später gibt ein Mann an der Rezeption des Otto-Brües-Heims in Krefeld-Uerdingen einen Karton ab. Der möge in den Kühlschran­k gestellt werden und, wenn Pflegerin Sandra Dienstschl­uss hat, herausgeho­lt und überreicht werden. An dem Karton klebt ein Kuvert mit der Aufschrift „Für Sandra“.

Als sie das Heim verlassen will, fängt sie der Rezeptioni­st ab: „Sandra, hier wurde was für dich deponiert.“Sie öffnet den Brief und liest mit wachsendem Herzklopfe­n: „Liebe Sandra, ich habe noch lange an unser Gespräch gedacht. Da habe ich etwas komponiert: zwei Portionen Lebkuchen-Amaretto-Creme mit Apfelkompo­tt und einer Prise Kardamom. Einmal für Dr. Schön, einmal für Sie. Frohe Weihnachte­n wünscht André.“

Und als sie darunter eine Handynumme­r sieht, macht ihr Herz sogar einen kleinen Hüpfer.

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ILLUSTRATI­ON:MARTINFERL

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