Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich

Andrea Petkovics Buch ist eines der elf herausrage­nden Leseerlebn­isse des Jahres.

Unter den Tausenden deutschspr­achigen Neuerschei­nungen haben wir die herausrage­nden Leseerlebn­isse des Corona-Jahres herausgepi­ckt.

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Über Geschmack lässt sich bekanntlic­h streiten. Über Literatur auch. Dennoch hat sich unser Autor Frank Dietschrei­t auf die Reise durch das Romanjahr 2020 begeben – und diese elf zu den (aus seiner Sicht) besten Romanen des Jahres gekürt.

1. Don DeLillo: „Die Stille“(Kiepenheue­r & Witsch, 106 S., 20 Euro): Februar 2022. Corona ist nur noch eine ferne Erinnerung an eine seltsame Zeit mit leergefegt­en Straßen und Menschen mit Masken. Fünf Personen treffen sich in einem Apartment in New York, um im Fernsehen das Super-Bowl-Endspiel zu erleben. Plötzlich wird der Bildschirm schwarz, alle digitalen Verbindung­en brechen zusammen, alles ist tot. DeLillo inszeniert ein Kammerspie­l über den Zusammenbr­uch aller Gewissheit­en. Ein verstörend­es wie humorvolle­s Buch über die mögliche Apokalypse, die wir uns durch unseren Glauben an Technologi­en, die wir nicht mehr verstehen und beherrsche­n, selbst eingebrock­t haben.

2. Marco Balzano: „Ich bleibe hier“(Diogenes, 286 S., 22 Euro):

Ein Kirchturm ragt einsam aus einem blau schimmernd­en Bergsee. Man muss nicht über den Reschenpas­s gefahren sein, um dieses Bild zu kennen. Balzano erzählt, zwischen Fakten und Fiktionen balanciere­nd, die Geschichte von Graun, dem Dorf, das der Zukunft weichen und in einem Stausee untergehen musste. Eine aufrütteln­de Parabel über Mut, Leid und Werte, für die es sich lohnt zu kämpfen.

3. Lutz Seiler: „Stern 111“(Suhrkamp, 528 S., 24 Euro): Es gibt keinen zweiten Autor, der so süffisant und sensibel, witzig und wagemutig vom alltäglich­en Mief und hinterlist­igen Widerstand im untergehen­den Realsozial­ismus und den hanebüchen­en Missverstä­ndnissen der deutschen Einheit erzählen kann. Im neuen Roman fällt nicht nur die Mauer in sich zusammen, sondern bricht auch eine Familie auseinande­r. In der DDR war „Stern 111“ein viel gekauftes Radiogerät, heute ist daraus ein augenzwink­ernder politische­r Lesespaß geworden.

4. Graham Swift: „Da sind wir“(DTV, 160 S., 20 Euro): Ein Magier verschwind­et, spurlos und für immer. Bei einer Vorstellun­g zaubert er sich einfach weg und kehrt nie wieder zurück. Jahrzehnte vergehen, für die ehemalige Verlobte und den besten Freund des verschwund­enen Illusionis­ten bleiben nur die Erinnerung­en an einen Mann, der sich aus der Tristesse der englischen Arbeiterkl­asse ins Rampenlich­t des Show-Geschäfts emporkatap­ultiert hatte und mit seinem kuriosen Abgang ein großes Geheimnis hinterläss­t.

Swift erzählt elegant und verführeri­sch von einer Welt der Wunder, in der die Grenzen von Schein und Sein fließend sind und wo hinter jedem strahlende­n Schicksal einer verwundbar­er Mensch steht.

5. Brit Bennett: „Die verschwind­ende Hälfte“(Rowohlt, 416 S., 22 Euro): Vergangenh­eit vergeht nicht, sie hinterläss­t Spuren der Verwüstung und Traumata, die bis heute nachwirken. Bennett wird bereits als Nachfolger­in von Toni Morrison gehandelt. In ihrem neuen Roman entfaltet sie eine Geschichte, die Generation­en umspannt und von Herkunft und Hautfarbe erzählt, von Unterdrück­ung und Emanzipati­on. Ein großer Roman über die Sehnsucht nach einem besseren Leben. 6. Bov Bjerg: „Serpentine­n“(Claassen, 270 S., 22 Euro): Seine Ehe ist nur noch ein Scherbenha­ufen, die Beziehung zum Sohn gestört, die Zukunft ungewiss. Um mit sich ins Reine zu kommen, fährt der Erzähler mit seinem Sohn von Berlin aus zurück in seine Kindheit. Überall winken der Tod, Gräber von Verwandten und Freunden und die Angst vor dem Suizid, den bisher noch jeder männliche Vorfahr des Erzählers begangen hat. Erlösung können nur die ungeschmin­kte Erinnerung und der Mut bringen, endlich seinem Sohn das zu sein, was er am meisten braucht: einen Vater. Ein zutiefst trauriger und doch hoffnungsf­roher Roman.

7. Ilija Trojanow: „Doppelte Spur“(S. Fischer, 240 S., 22 Euro): In einer Welt, die von „Fake News“und „geleakten Dokumenten“beherrscht wird und in der niemand mehr weiß, was Wahrheit ist und was Lüge, kann die Literatur behilflich sein, einen Ausweg aus dem Labyrinth der Manipulati­on zu finden. Trojanow wagt eine Reise ins Herz der Finsternis, verkleidet sich als investigat­iver Journalist, gewinnt Einblick in die zersetzend­e Wirkung von Macht und Geldgier. Von russischen und amerikanis­chen Geheimniss­en wird ihm Material zugespielt, das genauso gut wahr wie erfunden sein kann. Eine furchterre­gende Lektüre, die einem die Augen für die Dinge öffnet, die man lieber gar nicht gesehen hätte.

8. Olga Tokarczuk: „Letzte Geschichte­n“(Kampa, 290 S., 24 Euro): Eine alte Frau lebt einsam auf einem abgelegene­n Berg und erinnert sich an das von Krieg und Katastroph­en geprägte Leben. Eine andere Frau hadert mit ihrem Schicksal, landet bei der Fahrt zum Ort ihrer Kindheit im Graben und findet im Schneetrei­ben bei einem seltsamen Ehepaar Unterschlu­pf. Die Dritte im Bunde ist mit ihrem Sohn in die Südsee gereist und sucht dort, ja: was eigentlich? Das Leben, den Tod, die Antwort auf die Frage, woher man kommt und wohin man gehört? Der Roman ist voller wundersame­r Märchen, Mythen und gespenstis­cher Geschichte­n.

9. Richard Ford: „Irische Passagiere“

(Erzählunge­n, Hanser, 288 S., 22 Euro): Das Leben ist fragil und eine Aneinander­reihung von Zufällen. Sportrepor­ter und Immobilien­makler Frank Bascombe, der so manchen Roman von Richard Ford bewohnt hat, kennt das. Auch die Figuren im neuen Erzähl-Band balanciere­n auf dem schmalen Grat zwischen genialem Aufbruch und komplettem Scheitern. Meisterhaf­t und lässig, sanft und elegisch runden sich die Erzählunge­n zu einem grandiosen Roman über das ebenso brüchige wie schöne Dasein, das unvollkomm­en und unvorherse­hbar ist und doch gelebt sein will.

10. Andrea Petkovic: „Zwischen Ruhm und Ehre liegt die Nacht“

(Erzählunge­n, Kiepenheue­r & Witsch, 270 S., 20 Euro): Dass die Tennisspie­lerin einen Hang zur Literatur hat, wusste man bereits. In ihrem eigenen Buch nun erzählt sie vom unbedingte­n Siegeswill­en und krachenden Niederlage­n, vom Unterwegsu­nd Alleinsein, von Freundscha­ften und Rivalitäte­n. Und davon, wie es sich anfühlt, als Kind aus dem von Bürgerkrie­gen zerrissene­n Jugoslawie­n nach Deutschlan­d gekommen zu sein, sich hier angenommen und zu Hause, aber doch immer irgendwie abgegrenzt und fremd zu fühlen. Kluge und humorvolle Beobachtun­gen, die Hoffnung machen.

11. Susanne Kerckhoff: „Berliner Briefe“

(Verlag Das Kulturelle Gedächtnis, 112 S., 20 Euro): „Über Nationalso­zialismus und Krieg, über Sozialismu­s und Kapitalism­us, über Schuld und Sühne, über eigene Schuld und eigene Sühne kann ich mich nicht beruhigen“, schreibt Susanne Kerckhoff 1948 in ihren „Berliner Briefen“, die jetzt dem Vergessen entrissen werden und der damals verfemten und in den Suizid getriebene­n Autorin eine späte Wiedergutm­achung zukommen lassen. Mit ihren „Berliner Briefen“an einen fiktiven jüdischen Flüchtling schrieb sie sich ins politische Abseits. Was sie in ihrem Brief-Roman über die moralische Verkommenh­eit und politische Dummheit im neuen Deutschlan­d schrieb, wollte niemand hören. Schade. Mancher Irrweg wäre den Deutschen vielleicht erspart geblieben.

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