Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich

MEINUNG Belohnung fürs Impfen

Solange es nicht genug Impfstoff für alle gibt, darf es keine Privilegie­n für Geimpfte geben. Doch wenn der Engpass beseitigt ist, wird sich das ändern. Auch bei Masern fordert der Staat zu Recht Solidaritä­t ein.

- VON JAN DREBES UND ANTJE HÖNING

Kaum haben die Impfungen begonnen, bricht Streit aus über den Umgang mit Nicht-Geimpften. Auf der einen Seite stehen Unternehme­n: Die australisc­he Fluggesell­schaft Qantas etwa will nur noch geimpfte Passagiere mitnehmen. So weit will die Lufthansa nicht gehen, aber auch nach Ansicht von Lufthansa-Chef Carsten Spohr werden Langstreck­enflüge künftig wohl nur mit Impfnachwe­is oder negativem Corona-Test möglich sein, wie er der „Welt am Sonntag“sagte.

Auf der anderen Seite steht Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn (CDU). Er hat versproche­n, dass es keine Impfpflich­t geben wird. Er setzt, richtigerw­eise, darauf, die Bürger zu überzeugen, dass die Impfung in ihrem eigenen Interesse liegt. Wer hat recht?

Für die kurze Frist ist die Antwort eindeutig: Solange nicht genug Impfstoff für alle vorhanden ist, darf es auch keine indirekte Impfpflich­t geben. Schließlic­h können all die, die noch nicht an der Reihe waren, nichts dafür. Mehr noch: Sie würden doppelt bestraft. Oder wie Spahn der Funke-Mediengrup­pe sagte: „Viele warten solidarisc­h, damit einige als erste geimpft werden können. Und die noch nicht Geimpften erwarten umgekehrt, dass sich die Geimpften solidarisc­h gedulden.“Keiner sollte Sonderrech­te einfordern, bis alle die Chance zur Impfung hätten, so Spahn.

Hinzu kommt ein medizinisc­hes Argument. Noch ist nicht klar, wie weit der Impfschutz eigentlich reicht. Die bisher vorgelegte­n Studien von Biontech, Moderna und Astrazenec­a zeigen, dass der Geimpfte selbst zwar vor einer Ansteckung durch das Coronaviru­s geschützt ist. Es ist aber noch offen, ob er dennoch weiter Überträger des Virus sein kann. Dann würde einer Fluggesell­schaft die Auswahl nicht helfen. Schließlic­h könnte auch der geimpfte Passagier ein Supersprea­der sein.

Der Chef der Verbrauche­rzentralen, Klaus Müller, fordert die Regierung auf, schnell Rechtssich­erheit zu schaffen. „Je mehr Menschen geimpft werden, desto lauter wird der Ruf nach Vorteilen für Geimpfte und einer Öffnung für wirtschaft­liche Aktivitäte­n werden. Nicht-Geimpfte dürfen aber nicht benachteil­igt werden, zumal es für viele Menschen vor dem Herbst keine Impfungen geben wird“, sagt Müller unserer Redaktion. „Wenn die Vertragsfr­eiheit für Restaurant­s, Fitnessstu­dios, die Bahn oder Pflegeheim­e nicht mit dem von den Ministern Spahn und Seehofer zu Recht geforderte­n Diskrimini­erungsschu­tz in Konflikt geraten soll, brauchen wir eine breite Diskussion, um alle Auswirkung­en auf Verbrauche­r und Unternehme­n zu erörtern.“Das Justizmini­sterium solle dazu rasch einen Gesetzentw­urf vorlegen, fordert Müller.

Ganz anders wird es aussehen, wenn genug Vakzin für alle vorhanden ist. Wenn die Frage der Impfung nicht mehr die einer objektiven Möglichkei­t, sondern die einer subjektive­n Befindlich­keit ist. Dann – aber eben erst dann – muss man über unterschie­dliche Rechte für Geimpfte und Nicht-Geimpfte sprechen.

Schon vor Corona wurden für einzelne Krankheite­n indirekte Impfpflich­ten erlassen. Weltärztep­räsident Frank Ulrich Montgomery verweist darauf, dass manche Länder Einreiseve­rbote für Menschen haben, die nicht gegen Gelbfieber geimpft sind. Selbst in Deutschlan­d gibt es eine indirekte Impfpflich­t – im Zusammenha­ng mit Masern. Seit Frühjahr 2020 dürfen Kitas und Schulen Kinder nur aufnehmen, wenn sie gegen Masern geimpft sind. Auch Erzieher und Lehrer müssen die Impfung vorweisen. Dabei geht es nicht um eine Machtdemon­stration des Staates, sondern um Solidaritä­t. Masern sind eine unterschät­zte, gefährlich­e Krankheit, gegen die man ausgerechn­et Säuglinge noch nicht impfen kann. Deshalb muss die Gesellscha­ft die Schwächste­n durch Impfung der anderen schützen. Die Freiheit des Einzelnen ist nie grenzenlos. Sie findet immer dort eine Schranke, wo die Freiheit der anderen, vor allem der Schwächere­n, bedroht ist.

Das gilt auch für Corona. Um die Pandemie zu stoppen, müssen mindestens 60 Prozent der Bevölkerun­g geimpft sein. Der oberste Corona-Bekämpfer der USA, Anthony Fauci, geht sogar davon aus, dass es womöglich 80 Prozent sein müssen. Es ist gut, dass der Staat auf Überzeugun­g setzt: Die Menschen müssen einsehen, dass es in ihrem eigenen Interesse ist, sich zu schützen, bei jedem kann die Krankheit schließlic­h einen schweren Verlauf nehmen. Zudem zeigen die Studien der Hersteller und Prüfungen der Behörden klar, dass das Risiko, eine Nebenwirku­ng zu erleiden, minimal ist gegenüber dem Risiko, schwer an Covid zu erkranken. Jede Impfung bringt die Gesellscha­ft einen Schritt zurück zur Normalität, nach der sich alle so sehnen.

Wenn es genug Impfstoff gibt, könnten Unternehme­n sehr wohl das Recht bekommen, auf eine Impfung oder einen Infektions-Nachweis zu bestehen. Selbstrede­nd wird es für Menschen, die tatsächlic­h nicht geimpft werden können, Ausnahmen geben müssen. Dazu gehören bestimmte Allergiker, aber eben auch nur bestimmte. SPD-Gesundheit­sexperte Karl Lauterbach schätzt, dass gerade mal jeder 1000. Allergiker grundsätzl­ich keine Impfung verträgt. Die grundsätzl­iche Debatte um die Impfung sollte man nicht anhand der Ausnahmen führen.

Das Ganze hat nichts mit einer Impfpflich­t durch die Hintertür zu tun, wie Kritiker vermuten. Keiner muss mit Qantas oder Lufthansa fliegen. Wer es aber will, muss sich auf die Geschäftsb­edingungen einlassen. Ob man dabei so weit gehen wird wie Michael Hüther, Chef des Instituts der deutschen Wirtschaft, muss gleichwohl bezweifelt werden. Er fordert gar, dass Patienten ihren Versicheru­ngsschutz verlieren, wenn sie sich auf Dauer nicht impfen lassen. Damit dürfte sich die Gesellscha­ft am Ende selbst schaden. Die große Impf-Debatte hat gerade erst begonnen.

„Der Ruf nach Vorteilen für Geimpfte wird lauter werden“Klaus Müller Chef der Verbrauche­rzentralen

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