Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich
MEINUNG Belohnung fürs Impfen
Solange es nicht genug Impfstoff für alle gibt, darf es keine Privilegien für Geimpfte geben. Doch wenn der Engpass beseitigt ist, wird sich das ändern. Auch bei Masern fordert der Staat zu Recht Solidarität ein.
Kaum haben die Impfungen begonnen, bricht Streit aus über den Umgang mit Nicht-Geimpften. Auf der einen Seite stehen Unternehmen: Die australische Fluggesellschaft Qantas etwa will nur noch geimpfte Passagiere mitnehmen. So weit will die Lufthansa nicht gehen, aber auch nach Ansicht von Lufthansa-Chef Carsten Spohr werden Langstreckenflüge künftig wohl nur mit Impfnachweis oder negativem Corona-Test möglich sein, wie er der „Welt am Sonntag“sagte.
Auf der anderen Seite steht Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU). Er hat versprochen, dass es keine Impfpflicht geben wird. Er setzt, richtigerweise, darauf, die Bürger zu überzeugen, dass die Impfung in ihrem eigenen Interesse liegt. Wer hat recht?
Für die kurze Frist ist die Antwort eindeutig: Solange nicht genug Impfstoff für alle vorhanden ist, darf es auch keine indirekte Impfpflicht geben. Schließlich können all die, die noch nicht an der Reihe waren, nichts dafür. Mehr noch: Sie würden doppelt bestraft. Oder wie Spahn der Funke-Mediengruppe sagte: „Viele warten solidarisch, damit einige als erste geimpft werden können. Und die noch nicht Geimpften erwarten umgekehrt, dass sich die Geimpften solidarisch gedulden.“Keiner sollte Sonderrechte einfordern, bis alle die Chance zur Impfung hätten, so Spahn.
Hinzu kommt ein medizinisches Argument. Noch ist nicht klar, wie weit der Impfschutz eigentlich reicht. Die bisher vorgelegten Studien von Biontech, Moderna und Astrazeneca zeigen, dass der Geimpfte selbst zwar vor einer Ansteckung durch das Coronavirus geschützt ist. Es ist aber noch offen, ob er dennoch weiter Überträger des Virus sein kann. Dann würde einer Fluggesellschaft die Auswahl nicht helfen. Schließlich könnte auch der geimpfte Passagier ein Superspreader sein.
Der Chef der Verbraucherzentralen, Klaus Müller, fordert die Regierung auf, schnell Rechtssicherheit zu schaffen. „Je mehr Menschen geimpft werden, desto lauter wird der Ruf nach Vorteilen für Geimpfte und einer Öffnung für wirtschaftliche Aktivitäten werden. Nicht-Geimpfte dürfen aber nicht benachteiligt werden, zumal es für viele Menschen vor dem Herbst keine Impfungen geben wird“, sagt Müller unserer Redaktion. „Wenn die Vertragsfreiheit für Restaurants, Fitnessstudios, die Bahn oder Pflegeheime nicht mit dem von den Ministern Spahn und Seehofer zu Recht geforderten Diskriminierungsschutz in Konflikt geraten soll, brauchen wir eine breite Diskussion, um alle Auswirkungen auf Verbraucher und Unternehmen zu erörtern.“Das Justizministerium solle dazu rasch einen Gesetzentwurf vorlegen, fordert Müller.
Ganz anders wird es aussehen, wenn genug Vakzin für alle vorhanden ist. Wenn die Frage der Impfung nicht mehr die einer objektiven Möglichkeit, sondern die einer subjektiven Befindlichkeit ist. Dann – aber eben erst dann – muss man über unterschiedliche Rechte für Geimpfte und Nicht-Geimpfte sprechen.
Schon vor Corona wurden für einzelne Krankheiten indirekte Impfpflichten erlassen. Weltärztepräsident Frank Ulrich Montgomery verweist darauf, dass manche Länder Einreiseverbote für Menschen haben, die nicht gegen Gelbfieber geimpft sind. Selbst in Deutschland gibt es eine indirekte Impfpflicht – im Zusammenhang mit Masern. Seit Frühjahr 2020 dürfen Kitas und Schulen Kinder nur aufnehmen, wenn sie gegen Masern geimpft sind. Auch Erzieher und Lehrer müssen die Impfung vorweisen. Dabei geht es nicht um eine Machtdemonstration des Staates, sondern um Solidarität. Masern sind eine unterschätzte, gefährliche Krankheit, gegen die man ausgerechnet Säuglinge noch nicht impfen kann. Deshalb muss die Gesellschaft die Schwächsten durch Impfung der anderen schützen. Die Freiheit des Einzelnen ist nie grenzenlos. Sie findet immer dort eine Schranke, wo die Freiheit der anderen, vor allem der Schwächeren, bedroht ist.
Das gilt auch für Corona. Um die Pandemie zu stoppen, müssen mindestens 60 Prozent der Bevölkerung geimpft sein. Der oberste Corona-Bekämpfer der USA, Anthony Fauci, geht sogar davon aus, dass es womöglich 80 Prozent sein müssen. Es ist gut, dass der Staat auf Überzeugung setzt: Die Menschen müssen einsehen, dass es in ihrem eigenen Interesse ist, sich zu schützen, bei jedem kann die Krankheit schließlich einen schweren Verlauf nehmen. Zudem zeigen die Studien der Hersteller und Prüfungen der Behörden klar, dass das Risiko, eine Nebenwirkung zu erleiden, minimal ist gegenüber dem Risiko, schwer an Covid zu erkranken. Jede Impfung bringt die Gesellschaft einen Schritt zurück zur Normalität, nach der sich alle so sehnen.
Wenn es genug Impfstoff gibt, könnten Unternehmen sehr wohl das Recht bekommen, auf eine Impfung oder einen Infektions-Nachweis zu bestehen. Selbstredend wird es für Menschen, die tatsächlich nicht geimpft werden können, Ausnahmen geben müssen. Dazu gehören bestimmte Allergiker, aber eben auch nur bestimmte. SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach schätzt, dass gerade mal jeder 1000. Allergiker grundsätzlich keine Impfung verträgt. Die grundsätzliche Debatte um die Impfung sollte man nicht anhand der Ausnahmen führen.
Das Ganze hat nichts mit einer Impfpflicht durch die Hintertür zu tun, wie Kritiker vermuten. Keiner muss mit Qantas oder Lufthansa fliegen. Wer es aber will, muss sich auf die Geschäftsbedingungen einlassen. Ob man dabei so weit gehen wird wie Michael Hüther, Chef des Instituts der deutschen Wirtschaft, muss gleichwohl bezweifelt werden. Er fordert gar, dass Patienten ihren Versicherungsschutz verlieren, wenn sie sich auf Dauer nicht impfen lassen. Damit dürfte sich die Gesellschaft am Ende selbst schaden. Die große Impf-Debatte hat gerade erst begonnen.
„Der Ruf nach Vorteilen für Geimpfte wird lauter werden“Klaus Müller Chef der Verbraucherzentralen