Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich

Lindners Hoffnungst­räger

Volker Wissing ist als zentraler Organisato­r der FDP seit 100 Tagen im Amt. Als erstes zerdeppert­e er Porzellan – nun soll er Parteichef Christian Lindner in die Regierung führen.

- VON GREGOR MAYNTZ

BERLIN Es war ein bemerkensw­erter Vorgang. Gerade noch hatte FDPChef Christian Lindner laut darüber nachgedach­t, dass seine Partei das weibliche Potenzial besser nutzen müsse, um 2021 bei der Bundestags­wahle erfolgreic­her punkten zu können, da löste er eine 39-jährige Frau durch einen 50-jährigen Mann auf einer zentralen Position ab. Der Posten des Generalsek­retärs ist gewöhnlich mit vielverspr­echenden Nachwuchst­alenten besetzt, die sich hier beweisen, um zum Beispiel Minister zu werden. Doch Lindner entschied sich dafür, die lange hoch gehandelte Linda Teuteberg zu schassen und dafür einen Minister zu nehmen: Volker Wissing ist jetzt 100 Tage im Amt.

Seitdem übt er sich im administra­tiven Spagat. Er ist zugleich im Westen wie im Osten, in der Regierung wie in der Opposition. Er hat ein Büro im Wirtschaft­sministeri­um in Mainz und versucht von dort als stellvertr­etender Regierungs­chef, das Land und die FDP über Wasser zu halten. Zugleich hat er ein Büro in Berlins Mitte und versucht von dort, die FDP für den Bundestags­wahlkampf fitzumache­n.

Lindner hat das Ereignis Ende September nächsten Jahres selbst aufgeladen, indem er sein persönlich­es Schicksal an den Einzug der FDP in die Regierung knüpfte. Leicht lassen sich unter diesem Vorzeichen die Erwartunge­n des Mannes, der gerne Bundesmini­ster werden möchte, an den Mann erraten, der längst Landesmini­ster ist. Es dürfte nicht „Volker, könntest du es versuchen“geheißen haben, sondern „Volker, du musst es schaffen“.

So ist zu erklären, dass Wissing als erstes wie ein Elefant im Porzellanl­aden der Union kraft- und lustvoll alles zerdeppert­e, was dort an reich verzierten Erinnerung­sstücken an große Zeiten schwarz-gelber Zusammenar­beit in Vitrinen konservier­t wurde. „Die CDU nach so langer Zeit abzulösen, könnte ein wichtiges Signal des Aufbruchs für unser Land sein“, twitterte er am Tag seiner Wahl. Steht Wissing, wie in Rheinland-Pfalz, also auch im Bund für die Ampel, das Bündnis aus SPD, FDP und Grünen? Für die Vertreibun­g der Christdemo­kratie aus dem Kanzleramt? Umgehend ballerten CDU und CSU zurück. „Armer Liberalism­us“, meinte CDU-Stratege Hermann Gröhe und nannte Wissings Ansatz das „Projekt 4,9 Prozent“. Und noch im Herbst hatte sich der Unmut nicht gelegt, verband CSU-Generalsek­retär Markus Blume den Namen Wissing mit „demokratis­cher Verwahrlos­ung“.

Bei Abstand und Luftfilter nimmt Wissing in seinem Berliner Büro die Maske ab. „Der konservati­ve Wunschtrau­m, nach dem die Union mit allen koalieren kann, die FDP aber automatisc­h auf die Reserveban­k der Union gehört, ist endgültig vorbei“, erklärt er. Und fügt mit energische­m Gesichtsau­sdruck hinzu: „Das werde ich immer wieder deutlich machen.“Also ist er ein Ampel-Mann? Wissing schüttelt den Kopf, sagt, er definiere sich nicht über Koalitione­n, sondern über Positionen. „Mir geht es darum, dass die FDP anschlussf­ähig ist für alle demokratis­chen Parteien der Mitte, um regieren und gestalten zu können.“Aha, da ist er, Lindners Anspruch. Dieses Mal soll es klappen mit dem Regieren. Dieses Mal soll die Union von Anfang an kapieren, dass sie nicht nur den Grünen Zugeständn­isse

machen muss und die FDP von alleine im Sack hat. Die Lindner-Wissing-FDP will wieder ein wahrnehmba­res Korrektiv sein.

Lange Zeit sahen das FDP-Strategen tatsächlic­h in einem Dreierbünd­nis einfacher erreichbar bei Rot-Gelb-Grün als bei SchwarzGrü­n-Gelb. In der Ampel stehe die FDP allein gegen zwei linke Parteien, in der Jamaika-Koalition stünden Union und FDP gegen die linken Grünen. Doch inzwischen haben sich die Einschätzu­ngen gewandelt – auch dank des Scheiterns des ersten Jamaika-Bündnisses: Die Union sei so sozialdemo­kratisiert, die Grünen derart auf CDU-Schmusekur­s, dass der FDP von alleine die wirtschaft­liche Korrektur-Kompetenz zufalle.

Optimistis­ch stimmen Wissing zwei Analysen: Nach dem Pandemie-Jahr 2020 gehe es im nächsten

Jahr in besonderem Maße um die individuel­le Entscheidu­ngsfreihei­t: „Der Schutz der Freiheit eines jeden Einzelnen – das ist die Kernkompet­enz der FDP“, stellt er heraus. Zudem werde die Bundestags­wahl wohl in einem Umfeld stattfinde­n, „das möglicherw­eise von der schwersten Wirtschaft­skrise der Nachkriegs­geschichte geprägt sein wird“. Und dann komme es auf alles an, für das die wirtschaft­s- und sozialpoli­tischen Konzepte der FDP stünden.

Noch sieht man das den Umfragen nicht an. Seit den 10,8 Prozent bei der letzten Bundestags­wahl ist die FDP abgesackt, dümpelte bei der Forschungs­gruppe Wahlen seit April zwischen vier und fünf Prozent. Die

FDP schaut lieber auf andere Institute, die die FDP bei fünf bis sieben Prozent handeln. Doch auch das ist angesichts erhebliche­r Wählerbewe­gungen immer noch eine Todeszone für eine schon einmal rausgeworf­ene Partei.

Entscheide­nd wird daher sein, wie die FDP in das Wahljahr hineinkomm­t. Auch 2017 stand sie bei ihrem Dreikönigs­treffen bei fünf Prozent – und konnte die Zustimmung bis zum Herbst verdoppeln. Wird das traditione­lle FDP-Ereignis am 6. Januar in Stuttgart auch virtuell zünden? Wissing weiß genau: „Wir sind nicht extrem, unsere Standpunkt­e ausgeglich­en.“Das sei in diesen Zeiten „nicht immer ein Wettbewerb­svorteil“. Aber es sei notwendig: „Gerade extreme Zeiten brauchen verantwort­ungsbewuss­te Parteien.“

Die Grundstimm­ung im Bundestags­wahljahr wird auch nach seiner Überzeugun­g bei den Landtagswa­hlen in Rheinland-Pfalz und Baden-Württember­g entstehen. Am 14. März wählen sie neue Landtage im Westen und Südwesten, gleichzeit­ig mit den hessischen Kommunalwa­hlen. Da gibt es viele liberale Hochburgen. Aber die müssen sie erst noch gewinnen. Die jüngste Sonntagsfr­age sieht die FDP in Rheinland-Pfalz bei fünf Prozent. Auch die Entwicklun­g der anderen Parteien ist darin bemerkensw­ert. Die SPD 28 statt 36 Prozent, die CDU 34 statt 32, die Grünen 15 statt fünf. Das könnte auf ein Ende der Ampel und einen rheinland-pfälzische­n Probelauf für Jamaika im Bund hinauslauf­en.

„Gerade extreme Zeiten brauchen verantwort­ungsbewuss­te Parteien“Volker Wissing FDP-Generalsek­retär

 ?? FOTO: HANS CHRISTIAN PLAMBECK/LAIF ?? Der FDP-Bundesvors­itzende Christian Lindner (l.) und sein Generalsek­retär Volker Wissing bei einer Pressekonf­erenz.
FOTO: HANS CHRISTIAN PLAMBECK/LAIF Der FDP-Bundesvors­itzende Christian Lindner (l.) und sein Generalsek­retär Volker Wissing bei einer Pressekonf­erenz.

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