Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich

„Ohne Kurzarbeit wäre es dramatisch“

Der Chef der NRW-Regionaldi­rektion der Bundesagen­tur für Arbeit über Insolvenz und Qualifikat­ion im Lockdown.

- MAXIMILIAN PLÜCK FÜHRTE DAS INTERVIEW.

Herr Withake, wie sähe der Arbeitsmar­kt derzeit ohne Kurzarbeit aus?

WITHAKE Ohne dieses gute Instrument wäre die Lage dramatisch. Wir haben im Sommer mit der Kurzarbeit 1,2 Millionen Menschen vor dem Jobverlust bewahrt. Im Moment ist trotz des Lockdowns die Nutzung nicht mehr so intensiv. Zwar haben beispielsw­eise viele Händler vorsorglic­h Kurzarbeit für ihre Mitarbeite­r beantragt. Es ist aber ein flexibles Instrument. Weil es für die Geschäfte zum Beispiel die Möglichkei­t des „Click and Collect“gibt, wird sie dann oft gar nicht wahrgenomm­en, weil die Kräfte doch gebraucht werden.

Welche Branchen sind von der Pandemie am härtesten betroffen?

WITHAKE Beispiele sind Veranstalt­ungstechni­k und der Messebau, teils auch die Reisebranc­he und Kulturscha­ffende. Vor allem aber die Hotels und Gaststätte­n sowie der Handel.

Führt das dazu, dass sich die Belegschaf­t anderweiti­g umsieht?

WITHAKE Natürlich gibt es solche Fälle. Im Handwerk ist die Auftragsla­ge ungebroche­n gut. Dann überlegt sich der Schreiner im Messebau-Betrieb schon mal den Wechsel. Das Thema Fachkräfte­bedarf ist durch die Pandemie nicht verschwund­en. Vor der Krise haben sich – rein rechnerisc­h – 2,1 Fachkräfte auf eine Stelle beworben, jetzt sind es 2,8. Schwierige­r wird es im Helferbere­ich: Vor der Krise haben sich 9,9 Helfer auf eine Stelle beworben, jetzt sind es knapp 15.

Was erwarten Sie für den Jahresbegi­nn 2021, wenn die Verlängeru­ng der Insolvenza­ntragsfris­t ausläuft?

WITHAKE Die Bundesbank rechnete im Oktober dieses Jahres mit 6000 Insolvenze­n im ersten Quartal. Das könnte sich durch den Lockdown noch etwas nach hinten verschiebe­n. Wir haben keine Anzeichen dafür, dass eine umwälzende, coronabedi­ngte Welle kommt. Die Beantragun­g von Insolvenzg­eld ist derzeit sogar eher rückläufig. Wir sind aber für alle Eventualit­äten vorbereite­t und haben unser Personal entspreche­nd geschult. Wichtig für den Arbeitsmar­kt wäre, dass die Frühjahrsb­elebung einsetzt. Wenn diese ausbleibt, wird das Jahr auch für den Arbeitsmar­kt anspruchsv­oll.

Hat die Bundesagen­tur Möglichkei­ten, Menschen vorübergeh­end in den Sektoren unterzubri­ngen, wo gerade Not am Mann ist – Gesundheit­sämter, Kitas, Kliniken?

WITHAKE Wir erleben gerade Beschäftig­ungsaufwuc­hs im Bereich Lager und Logistik, im Lebensmitt­elund im Baubereich sowie im Gesundheit­swesen, dort vor allem bei Fachkräfte­n und auch einfachen Tätigkeite­n. Das wird aber nicht alles auffangen, weil es vom Berufsbild

oft nicht passt. Ich sehe gerade die große Chance, dass wir mehr Kundinnen und Kunden für Berufe am Menschen begeistern könnten. Wenn es uns gelingt, sie entspreche­nd weiterzuqu­alifiziere­n, kann aus einer Notsituati­on sogar etwas Positives herauskomm­en.

Um wie viel schwierige­r wird es durch Corona, Menschen in Arbeit zu bringen, die vorher schon Schwierigk­eiten hatten?

WITHAKE Die Hürden sind hoch. Das geht ja schon bei der eingeschrä­nkten Erreichbar­keit los, wenn der Kunde Vorerkrank­ungen hat. Deshalb haben wir in der Pandemie stärker auf Anrufe oder Videoberat­ung umgestellt. Die Agenturen und insbesonde­re die Jobcenter bieten aber selbstvers­tändlich immer noch persönlich­e Termine an.

Wie steht es um die Vermittlun­g Geflüchtet­er?

WITHAKE Im Juli waren 32 Prozent mehr Geflüchtet­e arbeitslos gemeldet als im Vorjahr. Bei allen Arbeitslos­en waren es 22,9 Prozent mehr als im Vorjahr. Die Geflüchtet­en haben diesen Abstand aber nach dem Ende des Lockdowns schnell verringert: Sie liegen derzeit etwa 22,5 Prozent über Vorjahr, bei allen sind es derzeit 19,4 Prozent.

Allerorten ist die Rede davon, dass die Digitalisi­erung durch Corona einen Schub bekommen hat. Wie sieht es bei der Bundesagen­tur aus?

WITHAKE Wir haben früh die technische­n Grundlagen geschaffen. Videotelef­onie gehörte immer schon intern dazu. Das war kein Problem. Zudem arbeiten wir schon seit vielen Jahren mit der elektronis­chen Akte. Das hat sich jetzt bewährt. Gibt es zum Beispiel Engpässe bei der Bearbeitun­g von Kurzarbeit­ergeld, kann die Nachbarreg­ion einfach aushelfen. Bei der Arbeitslos­meldung ist mittlerwei­le auch eine Online-Identifizi­erung mit dem Ausweis möglich.

Aber nur vorübergeh­end…

WITHAKE Ja. Das geht nur noch bis zum 31. März. Ich bin überzeugt, dass die guten Erfahrunge­n die politisch Verantwort­lichen überzeugen, dass die Vorteile die Nachteile überwiegen. Ich würde mir sehr wünschen, dass das Verfahren verlängert wird, weil es enorme Ressourcen schafft. Digitalisi­erung stößt aber auch an Grenzen.

Wie meinen Sie das?

WITHAKE Es gibt unterschie­dliche Lebenswirk­lichkeiten. Nicht jeder hat zu Hause schnelles W-Lan. Menschen mit eingeschrä­nktem Datenvolum­en überlegen sich schon sehr gut, ob sie die Daten für eine Videoberat­ung verwenden wollen. Und Jugendlich­e, die in der Grundsiche­rung aufwachsen, haben oft kein digitales Endgerät. Wir dürfen niemanden abhängen.

Was wünschen Sie sich aus dem Unternehme­rlager fürs neue Jahr?

WITHAKE Ich verstehe die Sorge, in einer Pandemie Menschen von außen ins Unternehme­n zu lassen. Aber ich sehe eine ganz schwierige Entwicklun­g: Jetzt kommt eigentlich die Praktikums­zeit für viele junge Menschen. Das bricht zum Teil weg. Und damit neben einer Möglichkei­t, Nachwuchs für die eigene Firma zu begeistern, auch potenziell­e Azubis kennenzule­rnen. Da wünsche ich mir mehr Kreativitä­t, dass man möglicherw­eise über andere, womöglich virtuelle Formate den jungen Leuten Zugänge zur Arbeitswel­t verschafft. Wenn man auf die Praktika verzichtet, findet man den Nachwuchs nicht.

Es gab einen gesellscha­ftlichen Aufschrei, dass viele Solo-Selbststän­dige in der Pandemie in Hartz IV rutschen würden.

WITHAKE Ich verstehe die Vorbehalte. Niemand möchte mit dem Trikot „Hartz-IV-Bezieher“durch die Gegend laufen. Ich kann nur an die Betroffene­n appelliere­n: Sie müssen da kein schlechtes Gefühl haben! Alle haben Verständni­s für die Situation und wir lassen Sie mit Ihren finanziell­en Sorgen in der Corona-Krise nicht alleine. Eine Überbrücku­ng mit der Grundsiche­rung kann ein guter Weg sein, um in der Zeit danach wieder durchzusta­rten. Immerhin 13.500 Solo-Selbststän­dige und Künstler haben bisher Grundsiche­rung in NRW beantragt. Von den Werbeversp­rechen der Politik vom „vereinfach­ten Verfahren“darf man sich aber nicht blenden lassen. Der Antrag hat auch fünf Seiten, und manchmal brauchen wir noch weitere Unterlagen. Wir helfen aber gerne dabei, diese auszufülle­n, vor Ort und über die bundesweit­e Servicehot­line.

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FOTO: ANNE ORTHEN Torsten Withake (54) ist Vorsitzend­er der Geschäftsf­ührung der Regionaldi­rektion Nordrhein-Westfalen der Bundesagen­tur für Arbeit.

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