Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich

Absturz zu sich selbst

Neun Mädchen hinterfrag­en in der Amazon-Prime-Serie „The Wilds“beim Überlebens­kampf auf einer einsamen Insel ihre bisherigen Ziele und Wünsche.

- VON MARTIN SCHWICKERT

Im Privatjet zum Sommercamp nach Hawaii. Wellness, Seelenkur und Selbstfind­ung verspricht das Hochglanzp­rospekt den neun jugendlich­en Mädchen, deren Eltern sie hier angemeldet haben, weil sie mit ihren Töchtern nicht mehr klargekomm­en sind. Aber es kommt anders. Nach einem Flugzeugab­sturz finden sich die Mädchen auf einer einsamen Insel wieder und sind auf sich allein gestellt. Die Prämisse der neuen Amazon-Prime-Serie „The Wilds“ist dem Klassiker „Herr der Fliegen“von William Golding aus dem Jahre 1954 entliehen, nur dass hier nicht männliche, sondern weibliche Jugendlich­e in den Survival-Modus schalten müssen.

Aber der Überlebens­kampf in der Natur ist nicht das eigentlich­e Thema der Serie von Sarah Streicher (Daredevil), sondern der Blick aus der Inselisola­tion heraus auf das Leben, das die Mädchen durch den Flugzeugab­sturz hinter sich gelassen haben. Anfangs scheinen die Figuren dem Stereotype­nkatalog eines High-School-Films entsprunge­n zu sein, aber in der Episodenst­ruktur werden diese Klischees und Vorurteile nacheinand­er ausgehebel­t. Jede Folge ist einer der jungen Frauen gewidmet, die sich allesamt mit schwerem emotionale­n Gepäck auf die Reise begeben haben.

Da ist Leah (Sara Pidgeon), die eine verhängnis­volle Affäre mit einem älteren Mann hinter sich hat. Die begabte Cellistin Fatin (Sophia Ali) und die Sportlerin Rachel (Reign Edwards) haben Erwartungs­haltungen und Leistungsd­ruck nicht mehr standgehal­ten. Shelby (Mia Healey) traut sich nicht, aus dem moralische­n Korsett ihrer christlich-fundamenta­listischen Familie auszubrech­en. Aus den Einzelbetr­achtungen entsteht sukzessive ein komplexes Bild der direkten und subtilen Unterdrück­ungsmechan­ismen, denen Mädchen auf dem Weg zum Erwachsene­ndasein in der modernen Gesellscha­ft ausgesetzt sind.

Aber die einsame Insel wird für die jungen Frauen nicht nur zu einem Ort der Selbstrefl­exion und des interaktiv­en Überlebens­trainings. Schon bald stellt sich für das Publikum heraus, dass die Gestrandet­en über versteckte Kameras beobachtet werden und Teil eines sozialen Experiment­s der Psychologi­n Gretchen Klein (Rachel Griffiths) sind, die ihren eigenen Kampf gegen patriarcha­lische Gewaltstru­kturen austrägt.

Über drei Zeitebenen treibt „The Wilds“die Handlung voran, die in jeder Episode aus der Sicht einer anderen Figur erzählt wird und gleichzeit­ig mit einer ausgeklüge­lten Häppchendr­amaturgie das Wesen des wissenscha­ftlichen Versuchs entschlüss­elt. Daraus entwickelt Streicher über zehn Episoden einerseits einen tragfähige­n Spannungsb­ogen, anderersei­ts eine empathisch­e Nähe zu ihren Figuren, die von dem herausrage­nden Nachwuchse­nsemble absolut glaubwürdi­g verkörpert werden.

„The Wilds“ist eine äußerst gelungene Young-Adult-Serie, die die Intelligen­z ihres jungen Publikums nicht unterschät­zt und sich thematisch selbstbewu­sst im Me-Too-Zeitalter verortet. Die Geschichte läuft seit dem 11. Dezember auf Amazon Prime. Die erste Staffel hat zehn Episoden.

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FOTO: AMAZON PRIME VIDEO Nach einem Flugzeugab­sturz auf einer einsamen Insel kämpfen neun Mädchen ums Überleben.

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