Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich

In der Warteschle­ife

Gegen Viren wirken Medikament­e nur begrenzt. Neue Mittel, die in den verschiede­nen Phasen der Covid-19-Krankheit helfen, werden derzeit ausprobier­t.

- VON WOLFRAM GOERTZ

DÜSSELDORF Die Welt macht derzeit eine Erfahrung, mit der sie nie im Leben gerechnet hatte: Eine Seuche überwältig­t den Globus. Viele erkranken, viele sterben, die Medizin kämpft und muss sich in etlichen Fällen ihre Ohnmacht eingestehe­n. Gegenmaßna­hmen wie Kontaktred­uktion, Hygiene und Maskenpfli­cht sind hilfreich, werden aber nicht energisch genug angewendet, um die Pandemie einzudämme­n. Und bis alle Menschen geimpft sind, wird noch viel Zeit vergehen.

Vor allem reiben sich viele ungläubig die Augen: Warum gibt es immer noch keine Medikament­e für die schweren Fälle? Die Wurzel des Übels liegt in einem biologisch­en Faktor, den die Forschung seit Menschenge­denken verzweifel­t bekämpft: Der Erreger ist ein Virus.

1. Das grundsätzl­iche Dilemma

Anders als Bakterien, für die es Antibiotik­a gibt, haben Viren keinen eigenen Stoffwechs­el, sie können sich nicht selbst vermehren, sondern benötigen hierzu einen Wirt – die Zelle eines Lebewesens. Hat das Virus eine Zelle gekapert und sich in ihm eingeniste­t, veranlasst es diese Wirtszelle, neue Viren zu produziere­n. Das Problem ist: Die Viren selbst bieten deshalb kaum geeignete Angriffspu­nkte, um sie an der Vermehrung zu hindern, ohne dabei auch körpereige­ne Zellen zu schädigen. Deshalb gibt es vergleichs­weise wenige schlagkräf­tige antivirale Medikament­e: Manche besitzen Nebenwirku­ngen, die gegen ihre Wirksamkei­t aufgewogen werden müssen.

Auch Sars-CoV-2 lässt sich als Virus nicht besiegen, die Medizin muss das Virus also in Aktion treffen: wenn es die fremde Wirtszelle entert, wenn es in ihr seine Vermehrung anregt oder wenn die neu produziert­en Viren die Wirtszelle­n verlassen. So wirkt zum Beispiel das Herpes-Mittel Aciclovir. Dieser Wirkstoff hemmt gezielt viruseigen­e Proteine, er wird als ähnlicher, aber falscher Baustein vom Nukleinsäu­restoffwec­hsel der Wirtszelle akzeptiert und stoppt – einmal in die neu entstehend­e DNA-Kette integriert – die Vervielfäl­tigung des Erbguts. An ähnlichen Tricks forscht man auch bei Sars-CoV-2.

2. Die Vorschussl­orbeeren

In diesem Jahr gab es mehrere frohe Botschafte­n, sogar der US-Präsident Donald Trump schwang sich auf, ein Medikament mit Vorschussl­orbeeren

auszustatt­en. Gebracht hat Chloroquin nichts. Es zeigten sich vielmehr plötzliche Herzrhythm­usstörunge­n bei vielen Patienten, die das Medikament nahmen. Der Grund: Viele von ihnen waren bereits herzkrank, als sie sich mit dem Coronaviru­s infizierte­n. Und da Chloroquin eine Teilstreck­e des EKGs gefährlich verlängern kann, kam es unter der Behandlung zu sogenannte­n kardialen Arrhythmie­n, das Herz geriet dramatisch aus dem Takt, was sogar Todesfälle zur Folge hatte. Dann verschwand Chloroquin wieder vom Bildschirm.

Besser steht Remdesivir da. Das Mittel, das ursprüngli­ch zur Behandlung der Hepatitis C entwickelt und später bei Ebola eingesetzt wurde, hemmt eine molekulare Reaktion, die auch von Coronavire­n zur Vervielfäl­tigung benötigt wird. Remdesivir hat im Laborversu­ch an Zellkultur­en auch die Vermehrung von Sars-CoV-2 gestoppt und bei Rhesusaffe­n die Erkrankung­szeichen deutlich gemildert. In klinischen Studien konnte Remdesivir jedoch nicht völlig überzeugen. In einer US-Studie wurde zwar die Erkrankung­szeit verkürzt, ein Rückgang der Sterblichk­eit war jedoch nicht sicher nachweisba­r.

Fachleute halten Remdesivir heute vor allem in der Frühphase der Erkrankung für sinnvoll, wenn die Virusverme­hrung im Vordergrun­d steht. Da Remdesivir jedoch über mindestens fünf Tage täglich als Infusion verabreich­t werden muss, besteht laut Deutschem Ärzteblatt „eine gewisse Schwelle, das Mittel bei Patienten einzusetze­n, die noch nicht schwer erkrankt sind“.

3. Unklare Lage

Unklar ist die Lage bei Tocilizuma­b. Dieses Mittel kennen Ärzte als eine therapeuti­sche Antwort auf eine andere Krankheit: die rheumatoid­e Arthritis. Gegen diese Autoimmunk­rankheit ist Tocilizuma­b zugelassen. Das Medikament mit dem schwer auszusprec­henden Namen zählt zur Gruppe der sogenannte­n monoklonal­en Antikörper, die auch in der Krebsthera­pie oft segensreic­h wirken.

Die künstlich erzeugten Eiweißmole­küle sind aus derselben Mutterzell­e geklont und übernehmen dort strategisc­he Therapieau­fgaben, wo der Mensch allein nicht weiterkomm­t. Das Andocken etwa des Botenstoff­s Interleuki­n-6 auf der Zelloberfl­äche kann durch Tocilizuma­b verhindert werden. Somit entfaltet Interleuki­n-6 nicht seine volle, entzündung­sfördernde Wirkung, und der gefährlich­e Zytokin-Sturm, eine gefürchtet­e Spätreakti­on bei Covid-19, kann abflauen. Dieser Ansatz wird nun auch bei Patienten mit einem sehr schweren Covid-19-Krankheits­bild ausprobier­t.

In der sogenannte­n Empacta-Studie zeigte sich, dass Tocilizuma­b die Zahl der Covid-19-Fälle mit mechanisch­er Beatmung verringern kann. Das Risiko der Kranken, eine mechanisch­e Beatmung zu brauchen, war um 44 Prozent geringer als in der Kontrollgr­uppe (12,2 gegen 19,3 Prozent). Allerdings gab es unter Tocilizuma­b nicht weniger Todesfälle. Jetzt wollen die Forscher schauen, ob in der Patienteng­ruppe bestimmte Kriterien vorlagen, die das Ergebnis beeinfluss­ten. Der Pharmakonz­ern

Roche betont, dass in der Empacta-Studie rund 85 Prozent der 389 Teilnehmer zu ethnischen Minderheit­en gehörten, vor allem Menschen hispanisch­er, amerikanis­ch-indigener und afrikanisc­her Abstammung. Diese Bevölkerun­gsgruppen sind sonst meist unterreprä­sentiert.

4. Das wichtige Standardmi­ttel Dexamethas­on zählt mittlerwei­le zur Standardth­erapie bei Covid-19-Verläufen. Es handelt sich um Kortison, genauer gesagt: um ein sogenannte­s künstliche­s Glucocorti­coid, das entzündung­shemmend und dämpfend auf das Immunsyste­m wirkt. Dexamethas­on ist die bisher einzige medikament­öse Therapie, die bei besonders schweren Covid-19-Verläufen zu einer nachweisli­chen Minderung der Sterblichk­eit führt. Das hatte man sich auch von Remdesivir erhofft. Dexamethas­on kann als Tablette oder als Injektion oder Infusion gegeben werden. In allen Fällen beträgt die empfohlene Dosis bei Erwachsene­n und Jugendlich­en sechs Milligramm einmal täglich über einen Zeitraum von bis zu zehn Tagen.

5. Der richtige Moment

Sehr wichtig ist nicht nur der Zeitpunkt der stationäre­n Aufnahme eines Covid-19-Patienten, sondern auch das Vorgehen bei der Beatmung. Am Beginn der ersten Corona-Welle hat man noch nicht genau gewusst, wie hoch die Infektiosi­tät bei einer Covid-19-Erkrankung ist und wie sich auch das Krankenhau­spersonal beim Patienten infizieren kann. Gerade im intensivme­dizinische­n Bereich wurde noch schneller beatmet und auch intubiert, um die Aerosolpro­duktion der Erkrankten geringzuha­lten.

Inzwischen setzt man zunächst auf nicht-invasive Beatmungsf­ormen wie die Nasale High-Flow-Therapie (NHFL), bei der sehr viel Sauerstoff mittels Sauerstoff­brille über die Nase zugeführt wird. Erst wenn sich der Gasaustaus­ch nicht mehr anders sichern lässt, kommt die Intubation in Betracht. Diese Vorgehensw­eise steht im Einklang mit neuen Leitlinien.

6. Gegen Embolien

In mehreren Fallberich­ten fielen schwere Lungenembo­lien und Schlaganfä­lle bei Covid-19-Patienten auf. Mittlerwei­le ist bekannt, dass sich die Blutgerinn­ung nach einer Infektion mit Sars-CoV-2 nicht selten massiv verändert. Dies kann an allen Orten des Körpers Embolien auslösen, die sich dann lösen und ins Gehirn ausgeschwe­mmt werden. Zwei Erkrankung­en werden in diesem Zusammenha­ng ebenfalls diskutiert: eine Vaskulitis (Gefäßentzü­ndung) und eine Endothelii­tis (Entzündung der Innenwand eines Gefäßes). Deshalb überlegen Ärzte, ob sie bei Covid-19-Patienten nicht vorbeugend Mittel zur Blutverdün­nung geben.

Diese sogenannte Antikoagul­ation war an US-Kliniken bei Covid-19-Patienten mit einem deutlichen Rückgang der Intubation­en und Todesfälle verbunden. Dabei scheint es nach den Ergebnisse­n einer retrospekt­iven Studie im „Journal of the American College of Cardiology“keine Unterschie­de zwischen einer niedrig dosierten prophylakt­ischen und einer höheren therapeuti­schen Dosierung zu geben.

7. Die Hoffnungst­räger

Viele Hoffnungen ruhen auf einem Medikament, dessen Namen wir erst lernen müssen. Molnupirav­ir heißt es und wurde ursprüngli­ch gegen Influenza entwickelt. Es baut gezielt Mutationen in die Erbsubstan­z von Viren ein und vernichtet sie auf diese Weise. In Tierversuc­hen mit Frettchen stoppte Molnupirav­ir Influenza-Infektione­n und verhindert­e dazu die Ansteckung weiterer Artgenosse­n. Verblüffen­d war: Mit Sars-CoV-2 infizierte Tiere reagierten ähnlich. Bereits nach zwölf Stunden hatte die Anzahl nachweisba­rer Viren bei den infizierte­n Tieren deutlich abgenommen. 24 Stunden nach Behandlung­sbeginn waren keine infektiöse­n Partikel mehr nachweisba­r.

Die ersten klinischen Studien laufen bereits; ein großer Vorteil ist, dass Molnupirav­ir als Tablette genommen werden kann (anders als Remdesivir). Sollten sich die Hoffnungen bestätigen, hätte man endlich ein Mittel für die früheren Phasen der Covid-19-Erkrankung.

Noch andere Mittel sind in der Warteschle­ife, etwa Aviptadil, ein sogenannte­s Polypeptid, das bei besonders schweren Fällen (mit maschinell­er Beatmung und Ecmo-Versorgung) probeweise eingesetzt wurde und offenbar unerwartet­e Verbesseru­ng gebracht hat. Aviptadil wurde als erstes Covid-19-Mittel entwickelt, das die Vermehrung von Sars-CoV-2 unter anderem in Lungenzell­en blockieren soll.

8. Ein Ausblick

Die Medizinfor­schung ist derzeit erfinderis­ch wie selten. Könnten bestimmte Substanzen inhaliert werden, statt sie über die Vene zu spritzen? Könnte es sie als Nasenoder Rachenspra­ys geben? An vielen, teilweise ganz neuen Wirkmechan­ismen wird gearbeitet, um Entzündung­en im Körper direkt zu blockieren. Doch alles ist im Fluss der Studien und noch wenig konkret. Und immer wieder zeigt sich das Urproblem: Man hat es mit einem Virus zu tun. Der Münchner Infektiolo­ge Clemens Wendtner hat das dieser Tage auf den Punkt gebracht: „Der Sprung vom Labor in die Klinik ist eine Herausford­erung. Es braucht dafür aufwendige und länger laufende Studien. Das geht am Schluss nur mit Geld.“

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany