Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich
Das Phänomen der späten Aufholjagden
Das Spiel in der Bundesliga ist hektischer geworden. Die Gegner sollen zum Kontrollverlust gedrängt werden. Das führt dazu, dass die Teams sich auch auf Zwei-Tore-Führungen nicht ausruhen dürfen.
MÖNCHENGLADBACH Früher war alles besser, zumindest beim 1. FC Kaiserslautern. Er war Bundesligist und sogar deutscher Meister. Und die Gegner fürchteten den Betzenberg. Dort gab es eine Nachspielzeit, bevor sie im Fußball offiziell eingeführt wurde, und in der war, das fürchteten alle, die zu Gast waren auf dem höchsten Fußballberg der Bundesliga, alles möglich. Auch, weil den 1. FC Kaiserslautern auszeichnete, dass er unbändigen Willen hatte, eine unglaubliche Kampfkraft – und er war sich für nichts zu schade, schon gar nicht für lang und weit rein in den Strafraum, der da noch nicht Box hieß. Und dann waren da Männer wie Stefan Kuntz, Olaf Marschall oder oder oder. Und es brannte bei den Gegnern. Sie wankten und fielen.
Nun ist der 1. FC Kaiserslautern verschwunden aus den Höhenlagen des deutschen Fußballs, doch das, wofür er und sein Stadion standen, das ist derzeit fast so etwas wie ein Prinzip geworden in der Bundesliga. Denn Führungen, selbst klarste, sind nichts mehr wert. Fast in jedem zweiten Spiel gewinnt nicht das Team, das sich zwischenzeitlich einen Vorsprung erwirtschaftet hat. Beispielsweise der 12. Spieltag der aktuellen Saison lieferte dafür Paradebeispiele.
Dass der FC Bayern nach Rückständen noch gewinnt, ist keine Errungenschaft der Moderne, doch in den Spielen zwischen dem VfB Stuttgart und Union Berlin sowie zwischen Eintracht Frankfurt und Borussia Mönchengladbach reichten jeweils Zwei-Tore-Führungen nicht aus, um am Ende der Gewinner zu sein. Union lag 2:0 vorn, doch der VfB kam heran und glich in der 90. Minute aus. In der traf auch Gladbach in Person von Lars Stindl – der dann in der Spielzeit namens 90 + 5 auch das 3:3 schaffte nach dem 1:3-Rückstand. Die Gladbacher spielten in Frankfurt sozusagen „Betze“, als alles eigentlich schon vorbei war, schrieben sie die Geschichte des Spiels flott nochmal um – nachdem sie vorher schon 1:0 geführt hatten. Indes haben Marco Roses „Jungs“, wie der Trainer zu sagen pflegt, selbst in dieser Saison schon erlebt, dass ein 2:0 keine Bank mehr ist, das war in der Champions League gegen Real Madrid, als die „Königlichen“die Nachspielzeit nutzten, um nicht zu verlieren.Sicherlich, das gedrehte Spiel, das Drama, ist keine Erfindung des gegenwärtigen Fußballs. Aber seine Häufigkeit im Alltag, die ist schon bemerkenswert.
Das liegt am Fußball selbst. Der war in den Hochzeiten des Tiki Taka geflissentlicher, das Ballbesitzspiel lässt in seiner edelsten Ausprägung vergleichsweise wenig Raum für Überraschungen. Es war ein Geduldspiel, der stete Tropfen, der den Stein höhlt, Ballzirkulation, es hat etwas vom Handball. Kontrolle war das Thema.
Doch das Spiel hat sich gewandelt. Jetzt geht es darum, Kontrollverluste zu provozieren. Der Fußball ist wilder geworden, es ist wieder alles erlaubt, was Erfolg bringt, wenn nötig eben auch hoch, lang und weit und kämpfen, kratzen, beißen – es gilt nicht mehr das hohe Gebot des schönen Spiels: Komplett muss ein Team sein in seinen Mitteln.
Es wird situativ gespielt, es werden Nadelstiche gesetzt: Der Gegner wird gestresst und bearbeitet, es geht darum, Bälle zu erobern und den Kontrahenten dann auf dem falschen Fuß zu erwischen, einen Unruhezustand zu schaffen, Sicherheit in Unsicherheit zu verwandeln. Es ist hektischer, intensiver. Der FC Ingolstadt, Eintracht Frankfurt und später RB Leipzig waren vor einigen Jahren Marktführer in diesem Segment, inzwischen gehört es zum guten Ton, unangenehm und wuchtig zu sein.Und weil dieses Spiel in dieser Ausprägung auch mit Kraft zu tun hat, kann es eben mal kippen am Ende, wenn die Kräfte schwinden. Das Wort „Abnutzungskampf“ist sehr martialisch, doch trifft es durchaus das, was der Fußball zuweilen ist. Aufgeben ist nicht, schon eine Situation kann alles verändern, das wissen die Spieler, und wenn etwas passiert, kommt das Muffensausen.
Der Kopf kickt mit, auch wenn es sehr körperlich zugeht.