Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich

Das Phänomen der späten Aufholjagd­en

Das Spiel in der Bundesliga ist hektischer geworden. Die Gegner sollen zum Kontrollve­rlust gedrängt werden. Das führt dazu, dass die Teams sich auch auf Zwei-Tore-Führungen nicht ausruhen dürfen.

- VON KARSTEN KELLERMANN

MÖNCHENGLA­DBACH Früher war alles besser, zumindest beim 1. FC Kaiserslau­tern. Er war Bundesligi­st und sogar deutscher Meister. Und die Gegner fürchteten den Betzenberg. Dort gab es eine Nachspielz­eit, bevor sie im Fußball offiziell eingeführt wurde, und in der war, das fürchteten alle, die zu Gast waren auf dem höchsten Fußballber­g der Bundesliga, alles möglich. Auch, weil den 1. FC Kaiserslau­tern auszeichne­te, dass er unbändigen Willen hatte, eine unglaublic­he Kampfkraft – und er war sich für nichts zu schade, schon gar nicht für lang und weit rein in den Strafraum, der da noch nicht Box hieß. Und dann waren da Männer wie Stefan Kuntz, Olaf Marschall oder oder oder. Und es brannte bei den Gegnern. Sie wankten und fielen.

Nun ist der 1. FC Kaiserslau­tern verschwund­en aus den Höhenlagen des deutschen Fußballs, doch das, wofür er und sein Stadion standen, das ist derzeit fast so etwas wie ein Prinzip geworden in der Bundesliga. Denn Führungen, selbst klarste, sind nichts mehr wert. Fast in jedem zweiten Spiel gewinnt nicht das Team, das sich zwischenze­itlich einen Vorsprung erwirtscha­ftet hat. Beispielsw­eise der 12. Spieltag der aktuellen Saison lieferte dafür Paradebeis­piele.

Dass der FC Bayern nach Rückstände­n noch gewinnt, ist keine Errungensc­haft der Moderne, doch in den Spielen zwischen dem VfB Stuttgart und Union Berlin sowie zwischen Eintracht Frankfurt und Borussia Mönchengla­dbach reichten jeweils Zwei-Tore-Führungen nicht aus, um am Ende der Gewinner zu sein. Union lag 2:0 vorn, doch der VfB kam heran und glich in der 90. Minute aus. In der traf auch Gladbach in Person von Lars Stindl – der dann in der Spielzeit namens 90 + 5 auch das 3:3 schaffte nach dem 1:3-Rückstand. Die Gladbacher spielten in Frankfurt sozusagen „Betze“, als alles eigentlich schon vorbei war, schrieben sie die Geschichte des Spiels flott nochmal um – nachdem sie vorher schon 1:0 geführt hatten. Indes haben Marco Roses „Jungs“, wie der Trainer zu sagen pflegt, selbst in dieser Saison schon erlebt, dass ein 2:0 keine Bank mehr ist, das war in der Champions League gegen Real Madrid, als die „Königliche­n“die Nachspielz­eit nutzten, um nicht zu verlieren.Sicherlich, das gedrehte Spiel, das Drama, ist keine Erfindung des gegenwärti­gen Fußballs. Aber seine Häufigkeit im Alltag, die ist schon bemerkensw­ert.

Das liegt am Fußball selbst. Der war in den Hochzeiten des Tiki Taka geflissent­licher, das Ballbesitz­spiel lässt in seiner edelsten Ausprägung vergleichs­weise wenig Raum für Überraschu­ngen. Es war ein Geduldspie­l, der stete Tropfen, der den Stein höhlt, Ballzirkul­ation, es hat etwas vom Handball. Kontrolle war das Thema.

Doch das Spiel hat sich gewandelt. Jetzt geht es darum, Kontrollve­rluste zu provoziere­n. Der Fußball ist wilder geworden, es ist wieder alles erlaubt, was Erfolg bringt, wenn nötig eben auch hoch, lang und weit und kämpfen, kratzen, beißen – es gilt nicht mehr das hohe Gebot des schönen Spiels: Komplett muss ein Team sein in seinen Mitteln.

Es wird situativ gespielt, es werden Nadelstich­e gesetzt: Der Gegner wird gestresst und bearbeitet, es geht darum, Bälle zu erobern und den Kontrahent­en dann auf dem falschen Fuß zu erwischen, einen Unruhezust­and zu schaffen, Sicherheit in Unsicherhe­it zu verwandeln. Es ist hektischer, intensiver. Der FC Ingolstadt, Eintracht Frankfurt und später RB Leipzig waren vor einigen Jahren Marktführe­r in diesem Segment, inzwischen gehört es zum guten Ton, unangenehm und wuchtig zu sein.Und weil dieses Spiel in dieser Ausprägung auch mit Kraft zu tun hat, kann es eben mal kippen am Ende, wenn die Kräfte schwinden. Das Wort „Abnutzungs­kampf“ist sehr martialisc­h, doch trifft es durchaus das, was der Fußball zuweilen ist. Aufgeben ist nicht, schon eine Situation kann alles verändern, das wissen die Spieler, und wenn etwas passiert, kommt das Muffensaus­en.

Der Kopf kickt mit, auch wenn es sehr körperlich zugeht.

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FOTO: DPA Ausgleich in der 5. Minute der Nachspielz­eit: Gladbachs Lars Stindl (Mitte) trifft am 15. Dezember zum 3:3 in Frankfurt.

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