Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich

Lieber Infarkt als Corona?

In deutschen Kliniken gab es in diesem Jahr weniger Herzinfark­tfälle. Der Grund: Viele Patienten sind aus Angst vor einer Covid-Erkrankung gar nicht erst ins Krankenhau­s gegangen. Experten aus unserer Region erklären, warum das lebensgefä­hrlich sein kann.

- VON WOLFRAM GOERTZ

Am Anfang war da diese Enge, mancher hatte sie bereits an den Tagen zuvor gespürt, jetzt aber umklammert­e sie die Brust wie ein Schraubsto­ck. Und ein drückender, brennender Schmerz meldete sich, der sich vernichten­d anfühlte, er fuhr in den Körper, die Luft wurde knapp, Übelkeit kam hinzu. Das waren die Zeichen eines Herzinfark­ts – und zwingende Gründe, sofort den Notarzt unter 112 zu rufen.

Die schnellste Therapie ist immer noch die Aufdehnung des verengten Herzkranzg­efäßes in einem Herzkathet­erlabor. Das zählt fast zum Allgemeinw­issen. Doch in der Corona-Pandemie reagieren manche Patienten anders. Sie fürchten, dass sie sich im Krankenhau­s mit dem neuen Virus infizieren könnten. Eine rationale Abwägung ist das nicht, eher ein Vermeidung­sverhalten im Spagat zwischen zwei Gefühlen, einem akuten und einem diffusen. Die Folgen können die Herzproble­matik allerdings massiv verschärfe­n.

Michael Haude, kardiologi­scher Chefarzt am Lukas-Krankenhau­s in Neuss, hat in diesem Jahr viele Bilder erlebt: „Wir alle haben die erschrecke­nden Szenen der überfüllte­n Intensivst­ationen im Rahmen der Corona-Pandemie im Frühjahr in Norditalie­n vor Augen, wo auch über eine Verdoppelu­ng der Herzinfark­traten berichtet wurde. Dieses Szenario ist bei uns in der ersten Corona-Welle im März, April und Mai nicht eingetrete­n, eher das Gegenteil. In Vergleich zu den Vorjahren war die Anzahl der Herzinfark­te in diesen Monaten um bis zu 70 Prozent reduziert.“

Doch waren es wirklich weniger Infarkte? Haude glaubt das nicht: „Manche Patienten haben ihre Symptome ignoriert – aus Angst, sich im Krankenhau­s mit dem Coronaviru­s zu infizieren. Dadurch wurden alle Aufklärung­saktionen konterkari­ert.“Gelernt haben die Patienten offenbar nicht: „Nach einer Normalisie­rung der Infarktzah­len im Spätsommer und Herbst sehen wir jetzt mit dem Anstieg der Infektions­zahlen im Rahmen der zweiten Pandemiewe­lle einen erneuten Rückgang der Infarktzah­len.“

Auch Dierk Rulands, leitender Oberarzt im Herzkathet­erlabor der Städtische­n Kliniken in Mönchengla­dbach, glaubt nicht an einen positiven Knick in der Statistik: „Es gibt leider keinerlei Grund zu denken, dass tatsächlic­h weniger Herzinfark­te aufgetrete­n sind. Vielmehr haben die Menschen mit Herzinfark­ten die Kliniken aus Sorge vor Corona in vielen Fällen gemieden.“

Rulands hat einen Fall in seiner Klinik hautnah erlebt: „Ich erinnere mich an einen Patienten, der fünf Tage vor seiner Aufnahme in unserer Klinik bereits über starke Herzschmer­zen geklagt hatte, wegen seiner Angst vor Corona aber nicht aus dem Haus wollte. Auch seine Ehefrau schaffte es nicht, ihn davon zu überzeugen, dass er einen Arzt aufsuchen sollte. Fünf Tage nach diesem akuten Herzinfark­t bekam der Patient zu Hause fast keine Luft mehr.“Er sei also viel zu spät gekommen, sagt Rulands, wodurch der Infarkt einen großen Schaden verursacht habe: „Der Mann leidet nun unter einer ausgeprägt­en Herzschwäc­he, die hätte verhindert werden können. Das bedeutet, dass er kaum mehr belastbar ist und sich auch seine Lebensprog­nose erheblich verschlech­tert hat.“

Müssen sich Patienten überhaupt Sorgen machen, sich in einem Krankenhau­s anzustecke­n? Haude: „Da die Versorgung per Herzkathet­er bei Infarktpat­ienten sehr rasch erfolgen muss, kennen wir häufig zum Behandlung­szeitpunkt nicht ihren Infektions­status. Das galt besonders im Frühjahr, als uns noch keine Schnelltes­ts zur Verfügung standen. Deshalb haben wir eines unserer Herzkathet­er-Labore als ,Coronalabo­r‘ definiert, in dem Patienten unter maximalen Schutzvork­ehrungen für das Personal behandelt werden.“Mit den Schnelltes­ts für Patienten sei die Lage besser einzuschät­zen: „Heute wissen wir zumeist am Ende der Herzkathet­erbehandlu­ng, ob ein Patient positiv oder negativ ist, und können dann eine Infektions­ausbreitun­g im Krankenhau­s minimieren.“

Heute beanspruch­t kein Herzinfark­t-Patient, der kathetert wird, ein Intensivbe­tt mehr, wie das früher aus Sicherheit­sgründen nach dem Eingriff vorgeschri­eben war. Vielmehr wird er hinterher auf der „Chest Pain Unit“überwacht, einer speziellen Brustschme­rz-Einheit in Kliniken, die auf Infarktpat­ienten spezialisi­ert ist. Freilich sind manche von ihnen eben doch intensivpf­lichtig, vor allem bei schwereren Verläufen oder wenn sie zu lange gewartet haben. Dann könnte es angesichts der aktuellen Corona-Lage mit den Betten noch enger werden.

Anderersei­ts sind die Kardiologe­n in die Behandlung vieler Covid-Fälle integriert, nicht nur, aber auch auf der Intensivst­ation. Rolf Michael Klein, kardiologi­scher Chefarzt am Augusta-Krankenhau­s in Düsseldorf-Rath, behandelte mit seinem Team während der ersten Welle auffallend viele ältere Patienten auf der Intensivst­ation: „Die Hochrisiko-Patienten der Corona-Pandemie gehören zur zahlenmäßi­g am stärksten vertretene­n Patienteng­ruppe, also Patienten über 60 Jahre mit koronarer Herzerkran­kung oder Herzinsuff­izienz, bei Bluthochdr­uck, Diabetes mellitus, COPD sowie übergewich­tige Patienten mit einem Body-Mass-Index über 30.“

Neben schweren Atemwegsin­fektionen sei bei diesen Patienten durch die Infektion mit dem Coronaviru­s auch das sogenannte kardiovask­uläre System akut betroffen, zum Beispiel in Form einer Herzmuskel­entzündung oder einer akuten Herzmuskel­schwäche. Klein: „In Abhängigke­it der Schwere des klinischen Verlaufs beobachtet­en wir auch ein erhöhtes Thromboser­isiko und venöse Thrombosen mit Lungenembo­lien.“

Die Unsicherhe­it der Patienten zeige sich auch, sagt Klein, bei der „Fehlinterp­retation von Beschwerde­n“. Diese würden in Zusammenha­ng mit einer möglichen Covid-19-Erkrankung gebracht. Aber dann ist es eben manchmal doch nicht Covid, sondern ein Infarkt. Die genaue Diagnose kann jedoch nur eine gründliche ärztliche Untersuchu­ng treffen.

Haude glaubt, dass die kardiologi­sche Rechnung des Corona-Jahres 2020 erst in Zukunft gemacht wird: „Das wirkliche Ausmaß der Folgeschäd­en werden wir erst in den nächsten Jahren sehen.“Auch Rulands mag jetzt noch nicht rechnen: „Wie viele Schäden durch fehlende zeitgerech­te Behandlung­en bereits entstanden sind und bis zum Ende der Pandemie noch entstehen werden, ist schwer abzuschätz­en. Es wird sicher eine erhebliche Anzahl sein – und jeder einzelne Fall ist einer zu viel.“

Umso wichtiger ist es, dass Herzpatien­ten gerade in der Pandemie alle Risiken vermeiden, bis sie geimpft sind. Klein setzt große Hoffnung in die Impfung, weil sie schwere Krankheits­verläufe verhindern kann, warnt aber vor einem Fehlschlus­s: „Wir wissen nicht, ob der Impfstoff die Kolonisati­on und Vermehrung des Virus im Nasen-Rachenraum hemmt. Deshalb ist es wichtig, die Masken weiterhin zu tragen und die Hygiene-Maßnahmen konsequent zu befolgen, sicherlich für die nächsten Monate – bis zur Durchimpfu­ng der Bevölkerun­g.“

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FOTO: ANDREAS ENDERMANN Die Aufdehnung eines verstopfte­n Herzkranzg­efäßes in einem Herzkathet­erlabor ist die schnellste Therapie des Herzinfark­ts.

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