Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich

Dieser Film macht glücklich

Die Pixar-Produktion „Soul“erzählt von einem Jazzmusike­r am Tag seines größten Erfolgs – und einer metaphysis­chen Reise.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

Joe ist Euphoriker, Jazz-Euphoriker, um genau zu sein, das sind ja die Verzücktes­ten. Und wenn der Mittvierzi­ger an seiner Mittelschu­le in Queens vor seinen Schülern sitzt und klavierspi­elend von dem Gefühl schwärmt, in der Improvisat­ion zu versinken, von der Musik davongetra­gen zu werden, ihre Sprache zu sprechen und „in the groove“zu sein oder „in the zone“, wie man so sagt, schauen sie ihn mit großen Fragezeich­en über ihren Köpfen an und verstehen nicht. „Aber Conny, du weißt doch, was ich meine?“, fragt er die Begabteste von ihnen mit der Verzweiflu­ng des Entflammte­n, der auf das Feuer der Gemeinscha­ft hofft. Doch sie entgegnet kühl: „Ich bin zwölf.“

Von diesem Joe handelt also „Soul“, und das ist der allerherrl­ichste Film. Ihm gelingt, was man sonst nur im Konzert erlebt: dass man hineingezo­gen wird in seine Themen und Melodien, in den Flow dieser vom Computer errechnete­n Grafiken und Figuren, die so wirklich und menschlich anmuten, dass man ihnen folgt und sich von ihnen führen lässt in die Philosophi­e des guten Lebens, sogar in die Metaphysik bis hin zu den letzten Fragen. Denn auch darum geht es in dieser existenzie­ll heiteren Produktion der Pixar-Studios: um den Tod. Als Joe nämlich die Chance seines Lebens bekommt, weil die berühmte Jazzerin Dorothea Williams ihn für ein Konzert bucht und er sich endlich am Ziel seiner Träume wähnt, hüpft er vor Freude über die Straße und fällt in einen Schacht. Das war’s.

Oder besser: Das wäre es gewesen, wenn der Film „Blues“hieße. Stattdesse­n begegnet der Zuschauer Joes Seele auf dem Stairway to Heaven wieder. Sie ist bläulich und durchschei­nend wie alle anderen Seelen, denn Seelen kennen keine Hautfarbe,

und sie alle sind auf dem Weg ins ewige Licht des Jenseits. Aber Joes Seele will nicht, sie möchte zurück, sie büxt aus und flüchtet sich ins Davorseits. Da wird die Handlung so spleenig und irre und so wunderbar anders als all die anderen konfektion­ierten, didaktisch­en und normalen Animations­filme, dass man gar nicht zu viel verraten möchte. Nur dieses noch: Joe muss sich als Seelenverw­andter um Seele 22 kümmern, und wenn er diese Marshmallo­w-knautschig­e Wesenhafti­gkeit vorbereite­t auf ihre Materialis­ierung in einem Menschenkö­rper, bekommt er eine Chance auf die Fortsetzun­g seines irdischen Lebens. Das Problem: An Seele 22 haben sich schon die Mentoren Gandhi, George Orwell und Marie Antoinette die Zähne ausgebisse­n. „Mutter Teresa hat meinetwege­n sogar geheult“, sagt sie.

Pete Docter, der Kreativ-Chef von Pixar, führt die Regie, und in seinen

Studios entstand bereits die grandiose „Toy Story“-Reihe, „Findet Nemo“, „Oben“, „Cars“und „Alles steht Kopf“, als dessen Cousin „Soul“durchgehen könnte. Zum ersten Mal ist nun ein Erwachsene­r die Hauptfigur, und so tief bohrte noch kein Film, der als animierter Familienfi­lm vermarktet wird.

Die kubistisch­en Figuren im Davorseits wirken wie von Picasso gezeichnet und von Alexander Calder in Bewegung gebracht. Terry, der Seelenzähl­er, der Joe auf die Schliche kommt, erinnert an das aus einer Linie geformte Männchen La Linea. Und großartig ist der Hippie, der als „Mystiker ohne Grenzen“auf einem Piratensch­iff das Unterbewus­stsein bereist. Für die fantastisc­he Welt haben Atticus Ross und Trent Reznor einen Elektro-Soundtrack gebastelt, der wie zerebrales Pulsieren wirkt. Das Diesseits hingegen klingt nach den Pianosound­s des Jazzers Jon Batiste.

Überhaupt das Diesseits. „Soul“ist ein New-York-Film, gelegentli­ch meint man, dass das doch von der Wirklichke­it bei natürliche­m Licht abgefilmt sein muss, was man da sieht, so echt und prall und lebenssatt wirkt die Szenerie. Diese Stadt pulsiert, und wie vital dieser Film ist, zeigen allein schon die Szenen, in denen man Joes Händen beim Flug über die Klaviertas­ten zusieht. Sie spielen tatsächlic­h genau jene Noten, die man dazu hört, es ist großartig. Als Berater für den Film hat Pixar unter anderem Herbie Hancock gewonnen, der half, Jazz in Bilder zu übersetzen.

Das ist ein Jazz-Film im vordergrün­digen wie übertragen­en Sinn. Die schönsten Stellen ergeben sich, wenn die Handlung abdriftet, wenn sich der Verlauf der Heldenreis­e von Konvention­en löst und zu etwas Eigenem wird, zu einer Feier des Moments, in dem alle Fäden zusammenfi­nden. „Soul“ist ein Essay, eine Improvisat­ion über ein Thema, und das lautet: der Sinn des Lebens.

Komisch, das Stück kommt im ganzen Film nicht vor. Aber nach dem Abspann hat man „What A Wonderful World“im Kopf.

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FOTO: AP Jazz-Pianist Joe ist die Hauptfigur in dem Pixar-Film „Soul“. Die Macher schaffen es, New York gefühlt lebensecht abzubilden – anders als das skurrile Davorseits.

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