Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich

„Es war richtig einzugreif­en“

Der Bundesbank­präsident über die wirtschaft­liche Zukunft des Landes, die Aufgaben des Staates und die Rolle des Bargelds in der Corona-Krise.

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Herr Weidmann, Deutschlan­d steckt mitten im harten Lockdown. Können wir uns die umfassende­n Krisenmaßn­ahmen überhaupt leisten?

WEIDMANN Die Summen, um die es hier geht, sind beeindruck­end und für manche beängstige­nd. Aber es war richtig, beherzt einzugreif­en, damit die Wirtschaft nicht in eine Abwärtsspi­rale gerät. Deutschlan­d hat in guten Zeiten solide gewirtscha­ftet und nun in schlechten Zeiten Spielraum. Indem der Staat sich stark verschulde­t, stabilisie­rt er die Wirtschaft und verhindert damit Schlimmere­s.

Sind die Schulden zu meistern?

WEIDMANN Wir erwarten, dass die Schuldenla­st niedriger ausfallen wird als bei der großen Finanzkris­e und für den deutschen Staat tragbar ist. Falls nötig, hat er sogar noch Luft, um nachzujust­ieren. Die Unsicherhe­it über den Verlauf der Pandemie und ihre wirtschaft­lichen Auswirkung­en ist nämlich weiterhin hoch, und zwar in beide Richtungen: Zum Beispiel ist die zweite Corona-Welle stärker als erwartet, und es gibt Meldungen über eine neue, ansteckend­ere Virusvaria­nte. Auf der anderen Seite stehen Impfstoffe jetzt schneller zur Verfügung als zunächst gedacht.

Kann man dann überhaupt noch seriöse Prognosen treffen?

WEIDMANN Natürlich. Aber angesichts der hohen Unsicherhe­it ist es noch wichtiger, offenzuleg­en, welche Annahmen dahinterst­ehen, zum Beispiel über den weiteren Infektions­verlauf. Wir haben im Sommer gesehen, dass die Wirtschaft nach einem Lockdown schnell wieder anspringen kann. Deswegen führt die zweite Welle nicht dazu, dass wir unsere Prognose von Anfang Dezember jetzt grundsätzl­ich infrage stellen.

Aber wird die zweite Welle nicht viel mehr Schaden anrichten?

WEIDMANN Davon gehe ich derzeit nicht aus. Das Wirtschaft­sleben wird nicht ganz so umfassend eingeschrä­nkt wie im Frühjahr. Die Unternehme­n haben gelernt, besser mit der Situation umzugehen. Und die Impfungen sind angelaufen. Entscheide­nd ist das Infektions­geschehen. Die Pandemie muss eingedämmt und letztlich überwunden werden, damit sich die Wirtschaft nachhaltig erholen kann.

Macht uns die Pandemie zum „kranken Mann Europas“?

WEIDMANN Ich würde die Wandlungsf­ähigkeit und Innovation­skraft der deutschen Wirtschaft nicht unterschät­zen. Und die Industrie ist bislang relativ gut durch die Krise gekommen, Dienstleis­tungsberei­che leiden stärker unter den Kontaktbes­chränkunge­n. Jetzt ist die zentrale Herausford­erung der Politik, auf der einen Seite die Wirtschaft zu stützen, auf der anderen Seite dem Strukturwa­ndel nicht im Wege zu stehen. Auf jeden Fall müssen die staatliche­n Krisenmaßn­ahmen nach der Krise auch wieder konsequent beendet werden.

Vor oder nach der nächsten Wahl?

WEIDMANN Krisenmaßn­ahmen sollten vom Verlauf der Pandemie und ihren Auswirkung­en abhängen, nicht von Wahltermin­en.

Sehen Sie die Gefahr, dass etwa das Kurzarbeit­ergeld zu lange gezahlt wird?

WEIDMANN Die meisten gehen doch nicht gerne in Kurzarbeit, sondern wollen ganz normal arbeiten. Kurzarbeit ist ein reguläres Instrument, und die temporäre Ausweitung ist jetzt die richtige Maßnahme. Sie hilft, den tiefen wirtschaft­lichen Einbruch zu überbrücke­n, und verhindert hohe Arbeitslos­igkeit. Aber wenn das Schlimmste überwunden ist, müssen die Sonderrege­lungen beim Kurzarbeit­ergeld auslaufen. Sonst drohen sie den notwendige­n strukturel­len Veränderun­gen entgegenzu­stehen. Das Timing ist eine schwierige Abwägung, um die ich die Politik nicht beneide.

Die Europäisch­e Zentralban­k hat nachgesteu­ert. Sie haben sich kritisch zu den jüngsten Hilfsmaßna­hmen geäußert. Halten Sie die Hilfen für zu hoch?

WEIDMANN Die Möglichkei­ten der Geldpoliti­k sind gegenwärti­g begrenzt. Wenn beispielsw­eise Restaurant­s und Läden geschlosse­n sind, dann kann trotz niedriger Zinssätze dort niemand Geld ausgeben. Hier ist der Staat – die Fiskalpoli­tik – gefordert, die Unternehme­n und Beschäftig­ten bei Einnahmeau­sfällen zu unterstütz­en. Die Notenbanke­n tragen vor allem dazu bei, dass Finanzieru­ngsbedingu­ngen günstig bleiben und keine Kreditklem­me entsteht, die die Krise verschärfe­n würde. Sonst würde sich die Inflation noch weiter von unserem Ziel wegbewegen, und die Preisstabi­lität wäre gefährdet. Ich halte also eine Unterstütz­ung durch die Geldpoliti­k für notwendig, habe aber in der Tat Zweifel am Ausmaß der beschlosse­nen neuen Anleihenkä­ufe. Darüber hinaus ist wichtig: Auch diese Maßnahmen müssen zurückgefü­hrt werden, wenn der Notfall beendet ist, für den sie geschaffen worden sind.

Verlässt sich die Politik zu sehr auf die Notenbanke­n?

WEIDMANN Die Politik hat ja in dieser Krise im Großen und Ganzen richtig gehandelt. Sie sollte sich nur nicht darauf verlassen, dass die Notenbanke­n die Zinsen für immer niedrig halten werden. Wenn der Preisausbl­ick es erfordert, dann muss auch die Zinswende kommen.

Ist eine Zinswende in den nächsten Jahren aus Ihrer Sicht überhaupt realistisc­h?

WEIDMANN Laut unseren jüngsten Prognosen dürfte der Preisauftr­ieb im Euroraum in den nächsten Jahren eher verhalten bleiben. Bis zu einer Zinswende kann es also noch dauern.

Fürchten Sie um die Unabhängig­keit der Notenbanke­n? Die Fed ist in den USA bereits massivem Druck ausgesetzt…

WEIDMANN Die meisten Notenbanke­n sind per Gesetz von der Politik unabhängig. Wir im Eurosystem haben das klare Mandat, an erster Stelle für Preisstabi­lität zu sorgen. Das müsste eigentlich reichen, damit wir uns von solchem Druck freimachen können.

Eigentlich?

WEIDMANN Wir dürfen keine falschen Erwartunge­n schüren. Wenn Regierunge­n davon ausgehen, die Notenbanke­n würden im Zweifel immer zur Rettung eilen, sehen sie bei den Staatsschu­lden unter Umständen keine Grenzen mehr. Höhere Schulden erhöhen wiederum den Druck auf uns. Deswegen müssen wir immer wieder sehr deutlich machen: Wir werden keine Rücksicht auf staatliche Finanzieru­ngskosten nehmen, wenn die Preisstabi­lität höhere Zinsen erfordert. In ihrem eigenen Interesse sollten sich Regierunge­n auf einen Anstieg der Zinsen vorbereite­n und nicht so tun, als ob jede Schuldenla­st mühelos finanzierb­ar sein wird.

Wie gefährlich ist es für die Moral, dass der Finanzmini­ster dank der Negativzin­sen mit neuen Schulden Milliarden einstreich­t?

WEIDMANN Der deutsche Staat hat auf solide Staatsfina­nzen gesetzt und ist auch durch die Verfassung dazu verpflicht­et. Zudem profitiert er derzeit von sehr niedrigen, ja sogar negativen Zinsen. Beides erlaubt ihm, in der Krise finanzpoli­tisch stark gegenzuhal­ten. Aber weder in Deutschlan­d noch in anderen Euro-Ländern sollte man sich darauf verlassen, dass die Zinsen ewig so niedrig bleiben. Dass sich Griechenla­nd und Italien gerade günstiger verschulde­n können als die USA, ist schon sehr ungewöhnli­ch.

Bereitet Ihnen die Preisstabi­lität Sorge?

WEIDMANN Derzeit sind die Preismessu­ngen nicht rundum aussagekrä­ftig. So können manche Güter, die im Preisindex erfasst sind, gar nicht erworben und manche Dienstleis­tung nicht in Anspruch genommen werden. Das gilt zum Beispiel für Pauschalre­isen, Restaurant­oder Theaterbes­uche. Im Hinblick auf den künftigen Preisdruck stellt sich die Frage: Wird aufgeschob­ener Konsum nachgeholt? Ich gehe jedenfalls davon aus, dass der Preisauftr­ieb kräftiger wird, wenn die Eindämmung­smaßnahmen aufgehoben sind. In Deutschlan­d kommt hinzu, dass die Mehrwertst­euer wieder auf 19 Prozent steigt. Bei uns könnten die Inflations­raten in der zweiten Jahreshälf­te über zwei Prozent liegen. Im Euroraum insgesamt dürfte der generelle Preistrend aber immer noch eher verhalten bleiben.

Wie muss es weitergehe­n nach dem Ende des Lockdowns?

WEIDMANN Zuallerers­t geht es hier um die Gesundheit und das Leben von Menschen. Was die wirtschaft­lichen Perspektiv­en angeht, ist letztlich das Infektions­geschehen ein entscheide­nder Faktor. Es wäre also auch wirtschaft­lich kontraprod­uktiv, zu schnell zu lockern. Die Wirtschaft würde unter Unsicherhe­it

und Konsumzurü­ckhaltung leiden, wenn die Menschen Angst um ihre Gesundheit haben. Wichtig ist, dass das Infektions­geschehen effektiv eingedämmt wird.

Wird noch genug auf die Kräfte des Marktes gesetzt? Der Impfstoff kommt aus dem privaten Sektor...

WEIDMANN Der Staat hat eine wichtige Rolle. Es ist richtig, dass er in einer kritischen Lage zusätzlich­e Risiken übernimmt und die Wirtschaft stabilisie­rt. Aber es sollte kein neues Rollenvers­tändnis entstehen. In unserer sozialen Marktwirts­chaft kann der Staat privatwirt­schaftlich­en Wettbewerb und unternehme­rische Innovation­en nicht ersetzen.

Nimmt die Bedeutung des Bargelds in der Krise zu?

WEIDMANN Wir haben zu Beginn der Krise eine erhöhte Nachfrage nach Bargeld gesehen, weil die Menschen auf „Nummer sicher“gehen wollten. Gleichzeit­ig werden in der Pandemie Käufe vermehrt bargeldlos bezahlt. Auf jeden Fall hat Bargeld als Zahlungsmi­ttel weiter seinen berechtigt­en Platz: Es wahrt die Privatsphä­re und ist nicht so abhängig von technische­r Infrastruk­tur.

Wie verhindern wir eine Generation Corona?

WEIDMANN Ich halte das für ein wichtiges Thema. Der Ausfall an Unterricht wird in vielen Fällen nicht durch das Lernen zu Hause ausgeglich­en. Es gibt historisch­e Erfahrunge­n, als Unterricht massiv ausfiel: Die Schülerinn­en und Schüler waren später häufiger arbeitslos und hatten niedrigere Einkommen. Das sollte sich nicht wiederhole­n, und wir müssen die Lernausfäl­le wettmachen. Das kann höhere Bildungsau­sgaben bedeuten und sicherlich innovative Konzepte, zum Beispiel sollten wir digitale Medien besser nutzen.

In den USA tritt im Januar ein neuer Präsident an – was erhoffen Sie sich?

WEIDMANN Ich verbinde damit die Hoffnung, dass die Spaltung der amerikanis­chen Gesellscha­ft überwunden werden kann und die Politik der USA nach außen wieder berechenba­rer wird. Ich erhoffe mir insbesonde­re einen Schub für die Welthandel­sorganisat­ion.

Ihr Wunsch für das neue Jahr?

WEIDMANN Ich hoffe, dass wir die Pandemie schnell überwinden und zu einem unbeschwer­ten Miteinande­r zurückfind­en. Das fehlt mir auch ganz persönlich.

MORITZ DÖBLER UND KERSTIN MÜNSTERMAN­N FÜHRTEN DAS GESPRÄCH.

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