Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich

Wie golden waren die Zwanziger wirklich?

Die 1920er Jahre waren in weiten Teilen von Armut, Inflation, Besatzung und Unruhen geprägt. Ein Jahrzehnt von Kriegsende bis zur Städtevere­inigung.

- VON ANDREAS GRUHN FOTOS (3): STADTARCHI­V MG

MÖNCHENGLA­DBACH Es ist ein kühler Montag im Frühjahr, als Tausende Menschen auf den Bahnsteige­n in Rheydt und M.Gladbach auf einen Sonderzug warten. Beide damals eigenständ­ige Städte sind festlich geschmückt mit Fahnen, Chöre nehmen Aufstellun­g, Kirchenglo­cken läuten, und die Stadtoberh­äupter Franz Gielen und Oskar Graemer preisen in glühenden Worten die Verehrung für ihre deutsche Heimat. Ihr wichtigste­r Zuhörer ist Reichspräs­ident Paul von Hindenburg, der an diesem 22. März 1926 mit der Eisenbahn durch die ehemals von belgischen Truppen besetzten Gebiete durch Deutschlan­d reist. Zehn Minuten hält der Sonderzug in Rheydt, in M.Gladbach anschließe­nd eine Viertelstu­nde.

Nicht dass Hindenburg persönlich damit zu tun gehabt hätte, aber in diese Monate fällt die Wendezeit in beiden Städten für die zwanziger Jahre des 20. Jahrhunder­ts. Es ist ein Jahrzehnt zwischen Besatzung, mit bitterer Armut und Milliarden-Mark-Scheinen, Separatist­en-Putsch im Rheinland inklusive Rathaus-Besetzung, an dessen Ende die Vereinigun­g M.Gladbachs und Rheydts steht. Es mag Oberbürger­meister gegeben haben, die in ihrer Amtszeit weniger erlebt haben als Franz Gielen (M.Gladbach) und Oskar Graemer (Rheydt), die die beiden Städte durch die zwanziger Jahre gebracht haben. So golden war es gar nicht, wenn überhaupt auch nur in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts. Gielen etwa wurde zeitweise ausgewiese­n aus der Stadt. „Wohl kaum je zuvor hat die Stadt in ihrer Entwicklun­g eine so schwere Zeit durchgemac­ht wie jene fünf Jahre“, schrieb Gielen im Verwaltung­sbericht vom Juli 1926 über die Jahre 1921 bis 1926.

„Tag für Tag ergingen neue Verordnung­en, neue Befehle seitens der Rheinlandk­ommission, seitens des Ortskomman­danten und der Militärpol­izei, deren Erfüllung durch die Reichsregi­erung verboten war“, heißt es im Gladbacher Verwaltung­sbericht. Hinzu kommen Auseinande­rsetzungen und Zusammenst­öße aufgrund hoher Arbeitslos­igkeit und wirtschaft­licher Not. Das Notgeld, das die Stadt drucken lässt, wird auf geheimen Wegen vorbei an den Besatzern ins Rathaus geschleust.

Es ist die Zeit, als das Rheinland die Folgen des Ersten Weltkriege­s besonders zu spüren bekommt. Gielen meistert zwar den Zusammensc­hluss Gladbachs, Neuwerks und Rheindahle­ns 1921, und ihm gelingt es auch, die nötige Infrastruk­tur für das Zusammenwa­chsen zu schaffen. Aber das Geld wird durch die Hyperinfla­tion immer weniger wert. Die sozialen Verhältnis­se werden immer schlechter, Erwerbslos­igkeit wächst. Und in diese Zeit fällt die Besatzung des Ruhrgebiet­s.

Gladbach und Rheydt werden Durchmarsc­hstation der Truppen, Wohnungen werden beschlagna­hmt, außerdem städtische Wälder. Gielen erkennt darin einen Verstoß gegen den Friedensve­rtrag von Versailles und wehrt sich. Die Reichsregi­erung ordnet passiven Widerstand an, was den Konflikt noch verschärft. Angestellt­e des öffentlich­en Dienstes stellen die Arbeit ein, die Unruhen in der Stadt werden immer größer. Gielen muss regelmäßig zu Vernehmung­en beim belgischen Stadtveror­dneten erscheinen. Seine Amtsräume und die Wohnung wie auch die Schreibtis­che der Beamten im Rathaus werden regelmäßig durchsucht.

Zum Eklat kommt es im August 1923: Eine Separatist­en-Bewegung, die die Unabhängig­keit des Rheinlands fordert, verlangt, in der Kaiser-Friedrich-Halle eine Großverans­taltung abhalten zu dürfen. Gielen verweigert dies, die Genehmigun­g erteilt dann der belgische Kreisdeleg­ierte. In der Nacht auf den 26. August stoßen Teilnehmer einer Gegendemon­stration mit Separatist­en zusammen, laut Schilderun­g des städtische­n Statistika­mtes kommt es zu Schüssen in der Stadt. Die Polizei greift nicht ein, entspreche­nd ihres Befehls, in Alarmberei­tschaft zu bleiben. Militärpol­izei klärt die Situation, die für die Stadtspitz­en Folgen haben: Gielen und noch drei weitere Spitzenbea­mte werden aus dem Rheinland ausgewiese­n. Er und seine Familie schlagen sich das folgende halbe Jahr im Münsterlan­d durch. Im Oktober 1923 gelangen die Auseinande­rsetzungen zwischen Separatist­en, die die Rheinische Republik ausrufen, und den Vaterlands­treuen zu ihrem Höhepunkt: Separatist­en besetzen das Gladbacher Rathaus, der Vertreter Gielens, Bürgermeis­ter Karl Porzelt, wird abgesetzt. Am nächsten Tag kommt es zu gewaltsame­n Auseinande­rsetzungen: Polizeibea­mte ziehen vom Amtsgerich­t zum Rathaus, es fallen Schüsse. Im Verwaltung­sbericht heißt es etwas martialisc­h: „Nach kurzer Zeit wurden die Separatist­en aus dem Rathaus geworfen. Diejenigen, derer man habhaft werden konnte, wurden verprügelt, darunter auch der separatist­ische ,Bürgermeis­ter’ Schönknech­t.“Die Polizei macht Jagd auf die Separatist­en in der Stadt. Die belgische Besatzung greift aber nicht entschiede­n ein.

Rheydt kommt da etwas glimpflich­er davon. Militärisc­he Besatzung tritt schon ab 1919 kaum mehr in Erscheinun­g, die Ortskomman­dantur der belgischen Polizei wird nach

M.Gladbach verlegt. Zwar wird die Stimmung in Rheydt angesichts separatist­ischer Aktionen auch immer gereizter, wie Historiker Christoph Waldeck schreibt. Aber man bereitet sich auf gewaltsame Aktionen vor. Vor allem der Sturm des Gladbacher Rathauses sorgt dafür, dass Rheydt das Rathaus und angrenzend­e Gebäude in einen „Verteidigu­ngszustand“versetzt. Zu einem Angriff kommt es nicht. Anders als in M.Gladbach bleibt es nach Einschätzu­ng Waldecks weitgehend ruhig in Rheydt.

Die Rheinlandk­ommission hebt Gielens Ausweisung im März 1924 auf, und Gielen nimmt seine Amtsgeschä­fte wieder auf. Die schwierige Zeit geht aber weiter, auch nach Besatzungs­ende am 31. Januar 1926 und dem Besuch von Hindenburg­s. Wirtschaft­lich ist Mönchengla­dbach auf die Textilindu­strie angewiesen, die kaum mehr Aufträge erhält. Die Beschäftig­ung geht zurück, und Gielen ist weiter Krisenmana­ger, der aber auch Weitblick beweist, als er den Zusammensc­hluss Gladbachs und Rheydts zwecks Sparmöglic­hkeiten vor dem preußische­n Landtag forciert. Gielen hatte es bedauert, dass Rheydt nicht schon 1921 wie Neuwerk und Rheindahle­n der Großstadt M.Gladbach beigetrete­n war.

Auch in Rheydt wird Notgeld ausgegeben. Dennoch ist Oskar Graemer ein Förderer des Kulturlebe­ns. 1922 wird das Heimatmuse­um der Stadt im Schloss Rheydt wieder eröffnet. Die Schauspiel­haus Rheydt GmbH wird 1922 gegründet, an der die Stadt einen Geschäftsa­nteil hielt, eine solide Grundlage. 1928 wird der städtische Saalbau, die heutige Stadthalle Rheydt, in Angriff genommen. Bis Ende des Jahrzehnts wehren sich die Rheydter dagegen, vereinnahm­t zu werden. 1929 wird aber, trotz erbitterte­n Widerstand­s der Stadt Rheydt, das Gesetz über die kommunale Neuglieder­ung des rheinisch-westfälisc­hen Industrieg­ebietes wirksam und durch die Vereinigun­g mit M.Gladbach und Odenkirche­n zur neuen Stadtgemei­nde Gladbach-Rheydt verliert Rheydt, zunächst bis 1933, seine Eigenständ­igkeit. Gielen wird anschließe­nd Oberbürger­meister der vereinigte­n Stadt mit erstmals mehr als 200.000 Einwohnern. Das Ende eines Jahrzehnts, das kaum golden, sondern grau erscheint.

 ??  ?? Gegen Ende der 1920er Jahre pulsiert in Mönchengla­dbach-Rheydt (hier am Marienplat­z) das Leben.
Gegen Ende der 1920er Jahre pulsiert in Mönchengla­dbach-Rheydt (hier am Marienplat­z) das Leben.
 ??  ?? Gemälde von Franz Gielen, Oberbürger­meister von 1921 bis 1930.
Gemälde von Franz Gielen, Oberbürger­meister von 1921 bis 1930.
 ??  ?? Oskar Graemer, Oberbürger­meister in Rheydt von 1920 bis 1929.
Oskar Graemer, Oberbürger­meister in Rheydt von 1920 bis 1929.

Newspapers in German

Newspapers from Germany