Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich
Wie golden waren die Zwanziger wirklich?
Die 1920er Jahre waren in weiten Teilen von Armut, Inflation, Besatzung und Unruhen geprägt. Ein Jahrzehnt von Kriegsende bis zur Städtevereinigung.
MÖNCHENGLADBACH Es ist ein kühler Montag im Frühjahr, als Tausende Menschen auf den Bahnsteigen in Rheydt und M.Gladbach auf einen Sonderzug warten. Beide damals eigenständige Städte sind festlich geschmückt mit Fahnen, Chöre nehmen Aufstellung, Kirchenglocken läuten, und die Stadtoberhäupter Franz Gielen und Oskar Graemer preisen in glühenden Worten die Verehrung für ihre deutsche Heimat. Ihr wichtigster Zuhörer ist Reichspräsident Paul von Hindenburg, der an diesem 22. März 1926 mit der Eisenbahn durch die ehemals von belgischen Truppen besetzten Gebiete durch Deutschland reist. Zehn Minuten hält der Sonderzug in Rheydt, in M.Gladbach anschließend eine Viertelstunde.
Nicht dass Hindenburg persönlich damit zu tun gehabt hätte, aber in diese Monate fällt die Wendezeit in beiden Städten für die zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Es ist ein Jahrzehnt zwischen Besatzung, mit bitterer Armut und Milliarden-Mark-Scheinen, Separatisten-Putsch im Rheinland inklusive Rathaus-Besetzung, an dessen Ende die Vereinigung M.Gladbachs und Rheydts steht. Es mag Oberbürgermeister gegeben haben, die in ihrer Amtszeit weniger erlebt haben als Franz Gielen (M.Gladbach) und Oskar Graemer (Rheydt), die die beiden Städte durch die zwanziger Jahre gebracht haben. So golden war es gar nicht, wenn überhaupt auch nur in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts. Gielen etwa wurde zeitweise ausgewiesen aus der Stadt. „Wohl kaum je zuvor hat die Stadt in ihrer Entwicklung eine so schwere Zeit durchgemacht wie jene fünf Jahre“, schrieb Gielen im Verwaltungsbericht vom Juli 1926 über die Jahre 1921 bis 1926.
„Tag für Tag ergingen neue Verordnungen, neue Befehle seitens der Rheinlandkommission, seitens des Ortskommandanten und der Militärpolizei, deren Erfüllung durch die Reichsregierung verboten war“, heißt es im Gladbacher Verwaltungsbericht. Hinzu kommen Auseinandersetzungen und Zusammenstöße aufgrund hoher Arbeitslosigkeit und wirtschaftlicher Not. Das Notgeld, das die Stadt drucken lässt, wird auf geheimen Wegen vorbei an den Besatzern ins Rathaus geschleust.
Es ist die Zeit, als das Rheinland die Folgen des Ersten Weltkrieges besonders zu spüren bekommt. Gielen meistert zwar den Zusammenschluss Gladbachs, Neuwerks und Rheindahlens 1921, und ihm gelingt es auch, die nötige Infrastruktur für das Zusammenwachsen zu schaffen. Aber das Geld wird durch die Hyperinflation immer weniger wert. Die sozialen Verhältnisse werden immer schlechter, Erwerbslosigkeit wächst. Und in diese Zeit fällt die Besatzung des Ruhrgebiets.
Gladbach und Rheydt werden Durchmarschstation der Truppen, Wohnungen werden beschlagnahmt, außerdem städtische Wälder. Gielen erkennt darin einen Verstoß gegen den Friedensvertrag von Versailles und wehrt sich. Die Reichsregierung ordnet passiven Widerstand an, was den Konflikt noch verschärft. Angestellte des öffentlichen Dienstes stellen die Arbeit ein, die Unruhen in der Stadt werden immer größer. Gielen muss regelmäßig zu Vernehmungen beim belgischen Stadtverordneten erscheinen. Seine Amtsräume und die Wohnung wie auch die Schreibtische der Beamten im Rathaus werden regelmäßig durchsucht.
Zum Eklat kommt es im August 1923: Eine Separatisten-Bewegung, die die Unabhängigkeit des Rheinlands fordert, verlangt, in der Kaiser-Friedrich-Halle eine Großveranstaltung abhalten zu dürfen. Gielen verweigert dies, die Genehmigung erteilt dann der belgische Kreisdelegierte. In der Nacht auf den 26. August stoßen Teilnehmer einer Gegendemonstration mit Separatisten zusammen, laut Schilderung des städtischen Statistikamtes kommt es zu Schüssen in der Stadt. Die Polizei greift nicht ein, entsprechend ihres Befehls, in Alarmbereitschaft zu bleiben. Militärpolizei klärt die Situation, die für die Stadtspitzen Folgen haben: Gielen und noch drei weitere Spitzenbeamte werden aus dem Rheinland ausgewiesen. Er und seine Familie schlagen sich das folgende halbe Jahr im Münsterland durch. Im Oktober 1923 gelangen die Auseinandersetzungen zwischen Separatisten, die die Rheinische Republik ausrufen, und den Vaterlandstreuen zu ihrem Höhepunkt: Separatisten besetzen das Gladbacher Rathaus, der Vertreter Gielens, Bürgermeister Karl Porzelt, wird abgesetzt. Am nächsten Tag kommt es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen: Polizeibeamte ziehen vom Amtsgericht zum Rathaus, es fallen Schüsse. Im Verwaltungsbericht heißt es etwas martialisch: „Nach kurzer Zeit wurden die Separatisten aus dem Rathaus geworfen. Diejenigen, derer man habhaft werden konnte, wurden verprügelt, darunter auch der separatistische ,Bürgermeister’ Schönknecht.“Die Polizei macht Jagd auf die Separatisten in der Stadt. Die belgische Besatzung greift aber nicht entschieden ein.
Rheydt kommt da etwas glimpflicher davon. Militärische Besatzung tritt schon ab 1919 kaum mehr in Erscheinung, die Ortskommandantur der belgischen Polizei wird nach
M.Gladbach verlegt. Zwar wird die Stimmung in Rheydt angesichts separatistischer Aktionen auch immer gereizter, wie Historiker Christoph Waldeck schreibt. Aber man bereitet sich auf gewaltsame Aktionen vor. Vor allem der Sturm des Gladbacher Rathauses sorgt dafür, dass Rheydt das Rathaus und angrenzende Gebäude in einen „Verteidigungszustand“versetzt. Zu einem Angriff kommt es nicht. Anders als in M.Gladbach bleibt es nach Einschätzung Waldecks weitgehend ruhig in Rheydt.
Die Rheinlandkommission hebt Gielens Ausweisung im März 1924 auf, und Gielen nimmt seine Amtsgeschäfte wieder auf. Die schwierige Zeit geht aber weiter, auch nach Besatzungsende am 31. Januar 1926 und dem Besuch von Hindenburgs. Wirtschaftlich ist Mönchengladbach auf die Textilindustrie angewiesen, die kaum mehr Aufträge erhält. Die Beschäftigung geht zurück, und Gielen ist weiter Krisenmanager, der aber auch Weitblick beweist, als er den Zusammenschluss Gladbachs und Rheydts zwecks Sparmöglichkeiten vor dem preußischen Landtag forciert. Gielen hatte es bedauert, dass Rheydt nicht schon 1921 wie Neuwerk und Rheindahlen der Großstadt M.Gladbach beigetreten war.
Auch in Rheydt wird Notgeld ausgegeben. Dennoch ist Oskar Graemer ein Förderer des Kulturlebens. 1922 wird das Heimatmuseum der Stadt im Schloss Rheydt wieder eröffnet. Die Schauspielhaus Rheydt GmbH wird 1922 gegründet, an der die Stadt einen Geschäftsanteil hielt, eine solide Grundlage. 1928 wird der städtische Saalbau, die heutige Stadthalle Rheydt, in Angriff genommen. Bis Ende des Jahrzehnts wehren sich die Rheydter dagegen, vereinnahmt zu werden. 1929 wird aber, trotz erbitterten Widerstands der Stadt Rheydt, das Gesetz über die kommunale Neugliederung des rheinisch-westfälischen Industriegebietes wirksam und durch die Vereinigung mit M.Gladbach und Odenkirchen zur neuen Stadtgemeinde Gladbach-Rheydt verliert Rheydt, zunächst bis 1933, seine Eigenständigkeit. Gielen wird anschließend Oberbürgermeister der vereinigten Stadt mit erstmals mehr als 200.000 Einwohnern. Das Ende eines Jahrzehnts, das kaum golden, sondern grau erscheint.