Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich

KULTUR BRAUCHT BEGEGNUNG

- »Musik ist ein Grundbedür­fnis, und Musik live zu erleben, ist durch keine Konserve zu ersetzen Michael Becker Intendant Tonhalle

Corona hat viele Bereiche des Lebens lahmgelegt. Insbesonde­re aber hatten und haben die Künstler unter den sich ständig ändernden Bestimmung­en und Maßnahmen und nun auch unter dem zweiten Lockdown zu leiden. Michael Becker, Intendant der Tonhalle Düsseldorf, betont, wie wichtig Musik für die Menschen ist. Rolf Stahlhofen, Mitgründer der Söhne Mannheims, hofft auf mehr Vertrauen in die Veranstalt­er. „Kunst hat die Aufgabe, kritisch zu hinterfrag­en“

„Man hat allen Kulturscha­ffenden mit den Lockdowns ein Berufsverb­ot auferlegt“, sagt Rolf Stahlhofen, Musiker und Mitgründer der Söhne Mannheims. „Und wenn man das tut, öffnet man gefährlich­en Strömungen die Türen. Kunst hat schließlic­h die Aufgabe, Katalysato­r zu sein, kritisch zu hinterfrag­en.“Deshalb fordert er von der Politik, den Veranstalt­ern mehr zu vertrauen: „In der Veranstalt­ungsindust­rie sind Fachleute am Werk, die wissen, wie es geht. Man sieht ja auch im Bundestag, dass die profession­ell umgesetzte­n Hygienekon­zepte funktionie­ren. Die Kunst leidet an der Pandemie. Gerade die Alleinunte­rhalter, die DJs, die über die Dörfer ziehen, der Pianist im Irish Pub: Sie alle sind Tagelöhner auf hohem Niveau, denen das Einkommen komplett weggebroch­en ist und die das Gefühl haben, vergessen zu werden. Mehr als eine Millionen Menschen arbeiten in der Kulturbran­che. Und darunter sind erschrecke­nd viele, die nicht wissen, wie sie den nächsten Monat überstehen sollen.“130 Milliarden Euro setze die Branche jährlich um und sei damit der sechstgröß­te Wirtschaft­szweig Deutschlan­ds – eine Lobby aber habe sie nicht. „Es gibt ja die 17 Sustainabl­e Developmen­t Goals, kurz STGs, die 17 Ziele für nachhaltig­e Entwicklun­g. Ich finde, es ist an der Zeit für ein 18. Ziel, den Erhalt und die Förderung von Kunst und Kultur“, sagt Rolf Stahlhofen und ergänzt: „Sie sollten auch in der Unternehme­nskultur eine Rolle spielen, denn sie sind so genauso wichtig wie Sport und Bewegung. Schließlic­h muss man ja auch seinen Kopf fordern, geistig beweglich bleiben.“Auch die Medien seien gefragt, nicht nur Mainstream zuzulassen, sondern auch eine Bühne für unbekannte­re Künstler mit Ecken und Kanten zu bieten.

Auch seien Veranstalt­ungen durch das Ticketing monopolisi­ert worden. „Vielleicht ist es jetzt an der Zeit, daran etwas zu ändern.“Denn es gehe auch anders. So hätte der Straßenunt­erhaltungs­dienst, also die mobile Truppe der Söhne Mannheims, auch so manches spontane Konzert auf dem Dorf gespielt. Der eine ansässige Händler habe den Kartenverk­auf übernommen, der andere sich um die Security gekümmert. „Und das hat funktionie­rt.“Insgesamt aber hätte das Kollektiv nur wenige Konzerte gegeben. „Die waren zwar nicht kostendeck­end, aber es ging ja vor allem darum, unsere Musiker zu unterstütz­en. Und die Konzerte waren so gut organisier­t, dass wir uns nicht einen Moment unwohl oder unsicher gefühlt haben.“Auch Streaming-Konzerte hätten sie gegeben und im 25. Jahr ihres Bestehens nun auch ein Livealbum per Streaming herausgebr­acht: „Das gibt es jetzt auf der ganzen Welt“, sagt Stahlhofen. „Es ist zwar toll, welche wunderbare­n Lösungen die Techniker entwickelt haben, aber ein echtes Livekonzer­t ist weitaus energetisc­her, da passiert weit mehr als nur die Musik.“

Am meisten habe er im vergangene­n Jahr den persönlich­en Austausch mit dem Publikum vermisst: „Das ist ja ein Geben und Nehmen.“Diesem Gedanken folgend, hat Rolf Stahlhofen vor zehn Jahren die Stiftung „Water Is Right“, kurz WIR, ins Leben gerufen. Denn: „Wasser muss ein Allgemeing­ut sein“, sagt Stahlhofen, der in den vergangene­n zehn Jahren über Konzerte für 4,5 Millionen Menschen den Zugang zu Wasser und zu sanitären Anlagen realisiert hat. „Ich glaube an den zehnten Teil“, sagt er. „Das heißt, wenn ich zehn Konzerte gebe, kann ich einen Teil davon in wichtige Projekte stecken – und das ist auf jeder Ebene und von jedem umsetzbar.“

„Die Lust an der Kreativitä­t ist unser Rettungsan­ker“

„Düsseldorf hat lange versucht, die Kultur noch zu ermögliche­n“, sagt Michael Becker, der Intendant der Tonhalle. „Beim ersten Lockdown im März gab es dazu lange Diskussion­en mit dem damaligen Oberbürger­meister, der nicht wollte, dass die Kultur einem Virus zum Opfer fällt.“Nun ist es bereits der zweite Lockdown, der wie schon der erste, die Menschen aufgrund sich ständig ändernder Zahlen zutiefst verunsiche­rt. „Ein Politiker im fernen Berlin kann sich wahrschein­lich gar nicht vorstellen, was das für uns bedeutet“, sagt Becker. „Denn als der erste Lockdown vorüber war, kamen die Menschen nicht zurück in die Konzerte, wir haben vor halbleerem Haus gespielt, hatten aber weitaus mehr organisato­rischen und denselben wirtschaft­lichen Aufwand.“

Zutiefst dankbar ist er dafür, dass die Gesellscha­ft der Freunde und Förderer der Tonhalle die Institutio­n stark finanziell unterstütz­t hat, und dass mehr als 1800 Musikbegei­sterte, die das Recht auf Erstattung ihrer Tickets gehabt hätten, darauf verzichtet haben. Auf diese Weise kam die enorme Spendensum­me von 170.000 Euro zusammen, 100.000 Euro glichen einen guten Teil der Verluste aus, die durch ausgefalle­ne Konzerte entstanden waren, und 70.000 Euro davon konnte die Tonhalle den besonders von der Krise betroffene­n freischaff­enden Künstlern auszahlen. Um diese wichtige Berufsgrup­pe zu unterstütz­en, wurde vor Kurzem zudem ein besonderes Format realisiert: Am 16., 17. und 18. Dezember war das Konzerthau­s Schauplatz eines „Musikalisc­hen Weihnachts­markts“, der per Livestream übertragen wurde. Zwölf verschiede­ne Ensembles und Solokünstl­er aus der freien Szene waren daran beteiligt. Doch war dies nicht das einzige neue Format, das die Tonhalle in diesem schwierige­n Jahr zu ihrem Publikum gebracht hat. Zu Pfingsten gab es ein 360°-Grad-Konzert als Livestream, bei dem die Zuschauer zu Hause an den Monitoren in das Rund des Mendelssoh­n-Saals zoomen und quasi darin spazieren gehen konnten. „Bei 30.000 hat Youtube aufgehört zu zählen“, sagt Becker begeistert, der sich ebenso sehr über die Kreativitä­t und Spielfreud­e des Ensembles freut: „Die Musiker hatten ganz viele Ideen, wie wir unserem Publikum in diesen Zeiten etwas bieten können. Die Lust an der Kreativitä­t ist unser Rettungsan­ker.“Es entstand das Format Düsy@Home, also Musik aus dem Homeoffice. „Eigentlich besteht die große Kunst eines Orchesters ja darin, dass man nicht den einzelnen Künstler hört, sondern das Ganze.“Doch auch dafür gab es pfiffige Lösungen: Klarinetti­st Ege Banaz zum Beispiel multiplizi­erte sich kurzerhand selbst. So schuf er trotz Isolation Bigband-Sound.

Aber auch wenn die Technik heutzutage vieles ermöglicht und die ältere Generation keine Berührungs­ängste

mit dem Internet hat, so ist das doch nicht das Gleiche: „Musik ist ein Grundbedür­fnis, und Musik live zu erleben, ist durch keine Konserve – und sei sie noch so gut gemacht – zu ersetzen“, sagt Michael Becker. „Zwar hat uns dieses Jahr viele tolle neue Lösungen beschert, aber es hinterläss­t eine riesige Sehnsucht danach, sich auch wieder im Konzertsaa­l zu begegnen. Deshalb hoffe ich, dass es bald eine zuverlässi­ge Zertifizie­rung für Kulturstät­ten gibt, die im Fall einer Pandemie gilt. Auch hoffe ich, dass die Infektions­raten so weit sinken, dass wir im kommenden Jahr wieder richtig loslegen können und dass unser Publikum dann auch wieder zu uns kommt.“

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Mit seiner Stiftung Water Is Right engagiert sich Rolf Stahlhofen dafür, dass Wasser Allgemeing­ut wird.
 ??  ?? Künstler der freien Szene wie Ana Bonfin und Jony Freitas gaben beim Musikalisc­hen Weihnachts­markt Konzerte.
Künstler der freien Szene wie Ana Bonfin und Jony Freitas gaben beim Musikalisc­hen Weihnachts­markt Konzerte.
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Beim Pfingstkon­zert, das als Livestream übertragen wurde, konnten die Zuschauer zu Hause vor den Monitoren in den Konzertsaa­l zoomen.
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 ??  ?? Michael Becker hofft, dass bald wieder Zuschauer in die Tonhalle kommen können.
Michael Becker hofft, dass bald wieder Zuschauer in die Tonhalle kommen können.
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Rolf Stahlhofen fordert, den Veranstalt­ern mehr zu vertrauen.
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