Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich
WIE CORONA UNS UND DIE GESELLSCHAFT VERÄNDERT
Zum Jahreswechsel startet das RP-Forum ein ganz besonderes Format „Zeitenwende“bringt Persönlichkeiten in sieben Gesprächsrunden zu verschiedenen Themen zusammen – als Hybridveranstaltung. In den Rudas-Filmstudios im Düsseldorfer Hafen wurde das Event per Video aufgezeichnet, auf dieser Seite sind wesentliche Aussagen zusammengefasst, alle Videos sind erlebbar unter: www.rp-forum.de/zeitenwende. Runde 1: Wandel
In der Auftaktrunde sprechen Düsseldorfs neuer Oberbürgermeister Dr. Stephan Keller und Hans Peter Bork sowie Matthias Körner (beide Geschäftsführer Rheinische Post) über die Veränderungen nach Corona. Keller ist davon überzeugt, dass „Corona Entwicklungen beschleunigt, hier kommt uns vor allem Digitalisierung in den Sinn. Allein das Format, das wir heute Abend hier machen, ist ein Zeichen des Wandels. Wir haben vieles in der Krise gelernt, vor allem müssen wir als Gesellschaft mehr Vorsorge treffen für Krisensituationen, um besser vorbereitet zu sein.“
„Ich weiß nicht, ob ich so weit gehen würde, von einem grundlegenden gesellschaftlichen Wandel zu sprechen, aber Corona wird die Gesellschaft verändern. Seit dem Ende des kalten Krieges haben wir uns daran gewöhnt, dass es kaum noch echte Krisen gibt – wir sind eines Besseren belehrt worden.“
Gleichzeitig weist das Stadtoberhaupt auf dramatische Situationen hin: „Es gibt Vereinsamungstendenzen, manche Menschen sind komplett von ihrem sozialen Umfeld abgeschnitten. Das betrifft nicht nur ältere Menschen, so ist etwa bei Kindern und Jugendlichen der Medienkonsum stark gestiegen, weil sie wenig Gelegenheiten haben, einem normalen Freizeitverhalten nachzugehen.“
Matthias Körner (Rheinische Post) bestätigt, dass seit März eine extrem hohe Nachfrage nach Medieninhalten zu verzeichnen ist. „Das betrifft auch den klassischen Bereich der gedruckten Tageszeitung, überraschenderweise, das hatten wir nicht erwartet. Gleichzeitig ist die digitale Nutzung extrem gestiegen, so haben wir viele neue Nutzer mit unseren Paid-Content-Angeboten gewinnen können: In der Krise sind vertraute und verlässliche regionale Medien gefragt.“
Wie die gesamte Medienbranche musste allerdings auch die Rheinische Post bei der Werbevermarktung Rückgänge verkraften, insbesondere bei Veranstaltungen. „Es ist jedoch bemerkenswert, mit welcher Tatkraft, Ideen und unternehmerischem Mut die Dinge vorangebracht wurden. Ein Format wie dieses wäre vor einigen Monaten nicht denkbar gewesen.“
Hans Peter Bork (Rheinische Post) verweist darauf, wie die Digitalisierung immer stärker unser Leben bestimmt: „Unternehmen, die heute keinen Online-Kanal haben, sind nachhaltig verloren. Das wird durch die Krise verstärkt. Wer kein mobiles Arbeiten ermöglicht, hat ein Riesenproblem. Viele Unternehmen haben das in rasanter Geschwindigkeit geschafft, wir gehören auch dazu. Wir hätten es nicht für möglich gehalten, dass auf einen Schlag tausende von Mitarbeitern von Zuhause arbeiten können.“
Gleichzeitig spricht Bork von einem Weckruf. „Was ist jetzt anders als vorher, wird das Alte wiederkommen oder müssen wir uns auf etwas Neues einstellen? Die Politik muss darüber nachdenken, wie Innenstädte in Zukunft aussehen. Außerdem wird die Führungs- und Kommunikationskultur maßgeblich durch das mobile Arbeiten verändert. Zudem haben wir gemerkt, dass Wohlstand und Gesundheit nicht selbstverständlich sind. Viele überlegen, was ist uns eigentlich in Zukunft wichtig? Ich bin überzeugt, dass vieles wiederkommt, aber nicht alles.“
Runde 2: Immobilien
Auch die Immobilienwirtschaft spürt die Folgen der Krise. Für Marc Abel (Jones Lang LaSalle) ist es aber falsch, nur danach zu schauen, wie in Zukunft räumlich gearbeitet wird. „Die richtige Frage lautet: In welchen Arbeitsmodellen arbeiten wir zukünftig? Viele Mitarbeiter wollen zurück ins Büro, doch zukünftig wird man nicht dorthin fahren, um zu telefonieren oder in den PC zu tippen – hier ist die physische Feuerstelle, wo sich Leute treffen, um sich auszutauschen. Ich sehe daher nicht, dass in Zukunft die Innenstädte leer sind.“
Caspar Schmitz-Morkramer vom gleichnamigen Architekturbüro sieht es als schwierig an, jetzt schon die richtigen Schlüsse zu ziehen. „Allerdings: Corona beschleunigt einen Trend. Wir haben schon vor einigen Jahren gesehen, welche Auswirkungen der Wandel im Handel auf die Innenstädte haben wird. Wir glauben, dass das alte Modell des Handels aus den 50-er und 60-er Jahren zu einer Monotonisierung unserer Innenstädte geführt hat – das wird so nicht weiter funktionieren.“
Schmitz-Morkramer sieht Corona als große Chance, um sich wieder auf gewisse Werte zu fokussieren. „Die europäische Stadt ist weltweit das erfolgreichste Modell, doch wir müssen weg von der Monotonie, müssen hin zu hybriden Stadtmodellen. Wir müssen darüber nachdenken, wie wir die Städte beleben können. Es geht um Einkaufen, Besuchen, Arbeiten, Wohnen – die Menschen haben Sehnsucht nach Erlebnis.“Zustimmung gibt es von Düsseldorfs Oberbürgermeister
Dr. Stephan Keller: „Wir müssen das Modell der europäischen Stadt weiterentwickeln, aber wir müssen es ja nicht grundsätzlich aufgeben. Der Dreiklang aus Life, Places, Buildings ist richtig, wir müssen den Menschen in den Mittelpunkt stellen und die Stadt so gestalten, dass die Menschen sich wohlfühlen und nachhaltig leben können.“
Andreas Bahners (Bahners & Schmitz) kritisiert, dass die Regularien immer komplexer werden. „Heute muss man für einen Bauantrag mehrere Aktenordner an Unterlagen einreichen. In den A-Städten haben wir das Problem, dass die Nachfrage nach Baugenehmigungen größer als das Angebot ist. Die Menschen in den Stadtverwaltungen geben zwar ihr Bestes, aber die Ressourcen reichen nicht aus.“Hier gibt es vom Oberbürgermeister ein Signal: „Als Stadtverwaltung müssen wir uns an die Zukunft anpassen und Engpässe beseitigen, damit die Stadt prosperieren kann. In der Digitalisierung liegt der Schlüssel zum Erfolg, damit wir schneller, unbürokratischer und damit bürgerfreundlicher werden.“
Für die nächsten Jahre ist Andreas Bahners für die Immobilienwirtschaft pessimistisch mit Blick auf die wirtschaftlichen Folgen der Krise. Deshalb plädiert er dafür, „die Ärmel aufzukrempeln und uns nicht auf dem Erfolg der letzten zehn Jahre auszuruhen. Wir werden uns mit Büroflächenleerstand ebenso auseinandersetzen müssen wie mit der Frage, wie die Innenstadt attraktiv bleibt. Ich glaube, dass wir den Fokus auf die Stadtteile legen sollten. So haben wir etwa viel Potenzial beim ruhenden Verkehr.“
Runde 3: Finanzen
Die Stadtsparkasse Düsseldorf hat sehr schnell auf die Sorgen vieler Unternehmen reagiert, betont Vorstandsvorsitzende Karin-Brigitte Göbel: „Wir haben eine digitale Antragsstrecke gebaut, um die Soforthilfen von Land und Bund umzusetzen: In nur 59 Stunden hatten wir das Produkt zusammengestellt, nach 99 Stunden waren die Gelder auf den Kundenkonten, um so die Wirtschaft zu stabilisieren und Arbeitsplätze zu erhalten. Inzwischen haben wir 310 Millionen Euro an Hilfen ausgezahlt und über 1100 Anträge bearbeitet, das ist gigantisch.“
Gregor Neuhäuser (Walser Privatbank) spricht über die Folgen des stetigen Rückgangs des Zinsniveaus für die Geldanlage. „Mindestens die nächsten fünf bis acht Jahre, wenn nicht sogar die gesamte Dekade über werden die niedrigen Zinsniveaus beibehalten. Um das Vermögen zu erhalten, müssen Anleger daher in relativ hohe Aktienquoten investieren, mindestens 50 bis 60 Prozent.“Aufgabe der Banken sei es, hier noch näher an den Kunden zu sein, um mit ihnen durch die Schwankungen der Kapitalmärkte zu gehen.
Oberbürgermeister Dr. Stephan Keller weiß zudem um die finanziellen Folgen der Krise für die Kommunen. „Uns fehlt tatsächlich Geld: Wir müssen, wenn wir die Investitionsfähigkeit der Stadt aufrechterhalten wollen, erstmals seit Jahren Investitionen über Kredite finanzieren. Trotzdem bleibe ich dabei: Die Schuldenfreiheit war immer ein Markenzeichen, mit dem wir Düsseldorf positiv nach außen vermarktet haben. Dorthin würde ich gerne wieder zurück, aber für die Übergangszeit – bis wir die Coronalasten hinter uns gelassen haben – sind Kredite notwendig.“
Auch Prof. Dr. Sven-Joachim Otto (Ernst & Young) verweist auf die erheblichen finanziellen Belastungen für die öffentlichen Haushalte. „Die Krise hat viele Defizite offengelegt und Entwicklungen beschleunigt. So sehen wir etwa im Bildungsbereich erhebliche Investitionsnotwendigkeiten. Aber das gilt auch für die Umweltpolitik: Wie bekommen wir es hin, dass wir auch ohne Umweltspuren die Dekarbonisierung umsetzen? Das geht nur durch intelligente Systeme, dafür sind Investitionen notwendig.“Der Wirtschaftsanwalt ist daher davon überzeugt: „Es wird einen erheblichen Investitionsbedarf geben für Infrastruktur, Dekarbonisierung, Digitalisierung. Dafür werden wir aber auch eine Dividende bekommen:
Wir verbessern so unsere Infrastruktur und steigern die Wettbewerbsfähigkeit.“
Runde 4: Bildung
Die ehemalige Bundesfamilienministerin Dr. Kristina Schröder, per Video zum RP-Forumzugeschaltet, plädiert für eine höhere Priorität von Kitas und Schulen. „Während im Mai in anderen europäischen Ländern die Kitas und Schulen eine hohe Priorität hatten und wieder öffnen durften, blieben viele Einrichtungen bei uns noch geschlossen. Das hat mich auch als Mutter von drei Kindern fassungslos gemacht. Gerade für Kindergärten und Grundschulen muss gelten, dass sie als allererstes lerletztes schließen und als allererstes öffnen müssen.“
Die Politikerin spricht sich fürdie Digitalisierung der Schulen aus, hält sie jedoch für übershätzt: „Mit Tablets allein wird es nichts mit der Bildung: Digitale Geräte sind als Instrument wichtig, sie sind aber kein Inhalt. Wir benötigen daher gute Lehrer, die Ankerwissen vermitteln – Wissen, das hilft, neu) es Wissen einzuschätzen.“
Petra Horn (SOS Kinderdörfe) lenkt den Fokus auf die Ents wicklungsländer, wo vielerorts selbst die einfachsten Coroar navorschriften nicht umsetzbar sind. „Menschen leben dort auf kleinem Raum, Distanz ist nicht einhaltbar, in vielen Länasser dern ist der Zugang zu Trinkwasser schwierig. Das schwerste Problem ist jedoch der Lockdown: Weltweit gibt es 1,6 Mils liarden Tagelöhner, denen das Einkommen komplett wegeine fällt. Es gibt nichts zu essen, keine medizinische Versorgung, die Armut steigt.“Petra Horn verweist auf die Armutspyramin de, die in den letzten 30 Jahren gesunken sei, jetzt steige sie wieder. „Rund 880 Millionen Menschen auf der Welt leiden an Hunger. Das war die Zahl vor der Coronakrise, wir rechner nen bis Ende Dezember mit einer Verdoppelung dieser Zahl.“
Die Unterstützer der SOS-Kiderdörfer sind der Organisaen tion treu geblieben: „Wir haben in 2020 viel Solidarität und Menschlichkeit erfahren. Unsere Sorge ist jedoch, was in den nächsten ein bis zwei Jahren passiert, wenn die Rettungsproinderdörfer gramme auslaufen.“Die SOS Kinderdorfer selbst konzentrielfen, ren sich darauf, Kindern zu helfen, damit sie ein unabhängils ges, selbstbestimmtes Leben als Erwachsene führen können. Petra Horn berichtet unter anderem von Hilfsprogrammen, mit denen Kindern Bildung, psychologische Unterstützung und der Umgang mit Wasser vermittelt wird.
Einen interessanten Ansatz verfolgt Dr. Markus Steinhauser von Organic Garden. Das Unernehmen setzt vor allem auf gesunde Ernährung, auch in den Schulen. „Ernährung muss wieder cool und interessant werden: Regionale Produkte, weche niger Fleisch, mehr vegetarische Kost – das ist gut für den Menschen und gut für die Umwelt.“Sein Unternehmen entten wickelt an mehreren Standorten in Deutschland Produktionsanlagen für Lebensmittel. „Unser Ziel ist es, Lebensmitnd tel nachhaltig, CO2-neutral und organisch zu produzieren – ohne große Ressourcenverschwendung. Ein einfaches Beihnitt spiel: Wir verwenden Grünschnitt in den Gewächshäusern für die Kompostierung. Damit wollen wir erreichen, dass Lebensmittel
zu bezahlbaren Preisen unter anderem für Schulen und Altenheime produziert werden können.“
Runde 5: Gastronomie
Die Gastronomie zählt zu den Branchen, die besonders stark unter den Folgen der Pandemie zu leiden haben. Die Düsseldorfer Gastronomin Kerstin Rapp-Schwan (Schwan-Restaurants) erinnert sich an den ersten Lockdown im März: „Das war extrem befremdlich. Erst hatten wir ein Gefühl der Schockstarre und mussten uns schnell auf die neue Situation einstellen – vom Kurzarbeitergeld, das es in der Gastronomie nie gegeben hat, bis zu der Frage, was wir überhaupt anbieten können.“
Arif Köse von der Event-Location Rudas berichtet, wie aus der Unsicherheit und Schockstarre schnell neue Ideen entstanden. Köse etwa muss seit März auf sämtliche Tanzveranstaltungen und Events verzichten. „Einen Vorteil haben wir: Diese Location ist ein ehemaliges Filmstudio. Das nutzen wir jetzt, um Dritt-Events wie dieses zu veranstalten und uns so weiterzuentwickeln.“
Mit einem ganzen Bündel von Ideen stemmt sich Kerstin Rapp-Schwan gegen die Krise. Im Frühjahr etwa hat sie mit ihren Teams für alle fünf Restaurants Konzepte entwickelt. „Am Samstag haben wir erfahren, dass wir am Dienstag wieder öffnen dürfen, und haben in kürzester Zeit alles getan, damit wir das auch können. Hygienekonzept, Mitarbeiter schulen, Trennwände – das alles haben wir in Windeseile umgesetzt. Zusätzlich haben wir einen Webshop eröffnet, weiter digitalisiert, die Speisekarten umgestellt, auf Auslieferung und To Go gesetzt.“Sie ärgert sich allerdings darüber, dass die Regierung den ganzen Sommer über Zeit gehabt hätte, um über die Folgen des zweiten Lockdowns nachzudenken – und nach ihrer Ansicht zu wenig getan hat.
Auch Franco Giannetti, der mit verschiedenen Restaurantkonzepten in Essen 200 Mitarbeiter beschäftigt, musste sich komplett umstellen. „Unsere italienischen Konzepte funktionieren super, weil hier Außer-Haus-Verkauf und To Go möglich sind. Aber bei unserem American Steakhouse und dem französischen Restaurant funktioniert es überhaupt nicht: Wenn ich eine gewisse Qualität nicht liefern kann, lasse ich es lieber.“
Einen großen Erfolg landete Giannetti gemeinsam mit Pia Kemper vom RP-Forum. „Als Folge der Pandemie konnte unsere große Weinveranstaltung im Herbst mit unserem Partner Walser Privatbank nicht stattfinden. Aber wenn die Gäste nicht zu uns kommen dürfen, dann gehen wir eben zu den Gästen.“Gemeinsam mit dem Essener Gastronomen entwickelte Pia Kemper ein hybrides Format: Das Weintasting wurde in einem dreiviertelstündigen Video nachempfunden, inklusive Musik, Wein- und Kochtipps. Das Essen selbst, ein komplettes Menü „Gans to go“, wurde an zwei Tagen an die Gäste ausgeliefert, insgesamt 200 Boxen. Pia Kemper und Franco Giannetti sind mit dem Ergebnis sehr zufrieden, zumal das Video über 36.000-mal abgerufen wurde.
Trotz solcher Erfolge, es reicht für die Gastronomen nicht. 75 Prozent der Gastronomen im Land haben Existenzängste. Die Forumsteilnehmer berichten, dass die Hilfsgelder vom November noch nicht ausgezahlt sind und in den Details viele Tücken stecken. Aber auf die Hilfen vom Staat allein wollen sie nicht warten: „Ich bin Unternehmerin geworden, um zu agieren und nicht zu reagieren. Wir wollen schnell wieder Geld verdienen, deshalb benötigen wir eine Strategie und eine Perspektive, das erwarte ich von der Regierung“, erläutert Kerstin Rapp-Schwan. „Wir müssen frühzeitig wissen, wann wir wieder öffnen dürfen, damit wir vernünftig starten können. Und die Politik sollte dann auch sagen, dass die Menschen wieder in die Gastronomie gehen dürfen, sonst bringt das nichts.“
Runde 6: Kultur
Michael Becker, Intendant der Tonhalle Düsseldorf, spricht von einer Flurbereinigung in der Kulturwirtschaft, die er gar nicht so negativ sehe. „Es gibt manche Erscheinungsformen in der Kultur, die irgendwo zwischen Baum und Borke existiert haben und mit gutem Willen durchgeschleppt wurden. Man sollte darüber sprechen, ob es sinnvoll ist, ein auf Dauer schlecht geführtes Institut weiterzuführen.“Der Intendant verweist zudem auf den Unterschied zwischen der freien und nicht freien Szene. Während Angestellte in Kulturinstitutionen sich die Frage stellen, wann sie wieder spielen können, ständen viele Soloselbstständige vor der Situation, dass sie keinerlei Einkommen haben.
Dazu zählt Rolf Stahlhofen (Söhne Mannheims), der sich wünscht, dass „der Veranstaltungsbranche mehr Vertrauen geschenkt wird“. Der Musiker gibt einen Einblick in das Innenleben der Branche. Und berichtet von vier Musikern aus seinem Bekanntenkreis, „die Suizid begangen haben, weil sie keine Zukunftsperspektive hatten. Das ist für mich das Schlimmste, was passieren kann. Die Tür muss auf jeden Fall wieder aufgemacht werden, denn diese Stille schafft Unruhe.“
Er erzählt auch von der Schwierigkeit der Branche mit ihren vielen Individualisten: „Ihnen fällt es schwer, mit vereinter Stimme zu sprechen. Musik und Events leben von ihrer Einzigartigkeit. Das macht es einer Industrie, die 1,8 Millionen Beschäftigte hat und 180 Milliarden Euro Umsatz macht, im Gegensatz zu gebündelten Industrien so schwer. Deshalb ist jetzt die Zeit, um klarzumachen, wie wichtig Kultur ist. Im Moment haben wir Ruhe, aber je länger dieses Berufsverbot ausgesprochen wird, desto unruhiger wird die Situation.“
„Die Notwendigkeit von Kultur ist unbestritten, sie ist lebensimmanent“, bekräftigt Michael Becker. „Es gehen jetzt schon viele Kulturschaffende in den Untergrund, sie spielen unter Einhaltung von Abstandsregeln auf Plätzen. Gleichzeitig finden sich neue Wege, die zeigen, dass die Szene sehr lebendig ist. Das sieht man auch bei unserem Orchester. Früher war Streaming ein No-Go, jetzt schauen rund 2500 Leute bei einem Konzert zu – und die Zahl steigt, weil das Konzert immer wieder abgerufen werden kann.“
Gleichzeitig verweist der Intendant auf die Probleme vieler freier Künstler. „Das Absurde ist, dass viele Künstler, die tatsächlich die Hilfe benötigen, sie nicht bekommen, weil man sie ja eben nicht auf einer Bühne sieht. Einzelkämpfer haben keine große Lobby. Dabei gibt es selbst große Konzerthäuser, die dringend auf Spenden angewiesen sind. Beim ersten Lockdown hat unser Publikum rund 180.000 Euro gespendet, damit konnten wir einigen unserer Solisten und Dirigenten durch den Sommer helfen.“
Runde 7: Kunst
RTL-Fernsehjournalist Wolfram Kons bringt es auf den Punkt: „Seit dem Zweiten Weltkrieg gab es kein Thema, das die Nachrichten so beherrscht hat wie Corona. Die Fernsehnutzung hat Nutzungszahlen, die wir lange nicht mehr gehabt haben. Wenn ein Virologe höhere Einschaltquoten hat als Helene Fischer, dann weiß man, was los ist. Das Bedürfnis nach Informationen war noch nie so groß.“Der Moderator folgert: „Wir Journalisten in Print, Fernsehen oder Radio haben natürlich eine hohe Verantwortung: Information statt Hysterie, Fakten statt Panik. Ich glaube, das wird auch honoriert. Die Menschen spüren, wo ehrlich und sachlich informiert wird.“
Der italienische Künstler Antonio Marra sieht die Krise mit einer gewissen Gelassenheit: „Ein Maler ist in seinem Atelier immer im Krisenmodus. Aber die Krise ist eine Chance, neue Denkmuster zu kreieren. Ich habe in meinem Leben viele Krisen erlebt, die Lösung habe ich in mir selbst: Optimismus und positives Denken sind die Wirkstoffe, die gegen alle Ängste wirken.“
Den Lockdown hat der Künstler für sich selbst als nicht so negativ empfunden. Denn als die Galerien erstmals schlossen, hat er die gewonnene Zeit für sich selbst genutzt. Die Bilder haben sich trotzdem verkauft, denn „die Menschen sehnen sich nach Positivem“. „Vor der Krise habe ich gedacht: Die Galerie als Geschäftsidee hat ausgedient. Heute denke ich anders. Die Menschen sehnen sich nach Begegnung und Austausch, die Galerie wird deshalb als Begegnungsraum eine Rolle spielen – dennoch wird das Digitale weiter an Bedeutung gewinnen.“
Umstellen müssen sich auch Arbeitgeber, erläutert der Düsseldorfer Agenturinhaber Dieter Castenow. „Ein attraktiver Arbeitgeber braucht heute ein Mindset, eine Milchbar. Wenn ich in eine Firma reinkomme und es gibt dort in der Küche Hafermilch, Vollmilch, Sojamilch und Magermilch – dann weiß ich, hier bin ich richtig, weil dieses Unternehmen in der Lage ist, Mitarbeiter unterschiedlicher Couleur aufzunehmen.“Mehr noch: „Ein Unternehmen muss heute in der Lage sein, sich mit bestimmten Bewerbern auseinanderzusetzen. Die Generation Y kann man nicht über Karriereplanung kriegen. In Coronazeiten brauche ich keinen PC-tauglichen Arbeitsplatz, sondern ein tolles Setup, das Homeoffice-tauglich ist, vielleicht einen Vetsak und am liebsten Delivery Hero – das muss man heute bieten, damit Mitarbeiter dabeibleiben. Denn: Mitarbeiter können heute sehr gut auswählen, wohin sie gehen, und das tun sie auch.“