Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich

Das frohe neue Jahr

2020 stand, natürlich, vor allem für Ungewisshe­it und Leid. Aber es sendet zum Schluss auch ein Signal der Hoffnung: im Dreiklang aus Liebe, Vernunft und Gesetz.

- VON MORITZ DÖBLER

Silvester als Tag, an dem die bösen Geister vertrieben werden sollen, hat eine lange Tradition. Auch wenn das Böllern diesmal ausfällt, können viele Menschen das Ende des alten Jahres kaum erwarten. Denn 2020 markierte den Beginn einer Pandemie, die weitreiche­nde Einschränk­ungen mit sich brachte. Das frohe neue Jahr soll alles besser machen; die Hoffnung ruht auf dem Impfstoff und dem Frühling. Aber es lässt sich längst ahnen, dass die alte Normalität sich nicht schnell einstellt und dass manches nie mehr so wird wie früher. Und erst mal geht es sowieso weiter wie bisher – das für den 10. Januar geplante Ende des harten Lockdowns stellen einige bereits infrage. Ja, es geht schon wieder um Corona, das Thema, von dem viele sagen, sie könnten es nicht mehr hören. Aber trotz allem war 2020 womöglich besser als sein Ruf. Auf Silvester folgt Neujahr als Tag der guten Vorsätze. Diesmal ist es andersheru­m. Es war nämlich ein geradezu historisch guter Vorsatz, der schon das alte Jahr bestimmt hat. Er zeigte sich zuletzt anschaulic­h darin, dass Edith Kwoizalla in einem Seniorenhe­im im Harz als Erste geimpft wurde. In früheren Zeiten, in anderen Regionen hätte man sicher nicht eine 101-Jährige ausgewählt und ihr dann zahlreiche weitere hochbetagt­e Menschen folgen lassen, die vermutlich nicht mehr viele Jahre vor sich haben. Die Impfung wäre das Privileg der Mächtigen und Wohlhabend­en gewesen. Um die Alten und Schwachen hätte man sich nicht geschert. Hier und heute ist es anders. Seit Beginn der Pandemie hat die Mehrheit in Deutschlan­d drastische Einschränk­ungen in Kauf genommen, um eine Minderheit – die sogenannte­n vulnerable­n Gruppen – vor Krankheit zu bewahren. Es gibt wohl kein Beispiel in der Geschichte, dass ein guter Vorsatz kollektiv so umfassend verinnerli­cht worden wäre. Schon die nicht mehr wegzudenke­nde Mund-Nasen-Maske zeigt das Prinzip. Es findet sich die christlich­e Nächstenli­ebe genauso darin wie der Kategorisc­he Imperativ, den Immanuel Kant vor mehr als 200 Jahren formuliert hat: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeine­s Gesetz werde.“Liebe, Vernunft und Gesetz kamen im alten Jahr zusammen wie selten zuvor. Natürlich, 2020 lässt sich auch ganz anders deuten, wie es die Demonstrat­ionen gegen die Einschränk­ungen zeigen. Auch für diese Meinung muss in einem freiheitli­chen Staat Platz sein. Doch dass bisher mehr als 30.000 Menschen in Deutschlan­d an oder mit der Erkrankung gestorben sind, lässt sich nicht leugnen. Und eine Mehrheit der Bürger bemängelt eher, dass der Dezember-Lockdown nicht schon deutlich früher kam. Das staatliche Handeln lässt sich zu Recht kritisiere­n. Da erinnert die Lage an jene vor fünf Jahren in der Flüchtling­skrise, als die Willkommen­skultur umschlug in Ablehnung. Daraus hätte sich lernen lassen: Wenn eine Gesellscha­ft einen guten Vorsatz fasst, muss sie seine Umsetzung gut organisier­en. Doch damals wie heute kam die Verwaltung einfach nicht hinterher, sodass die Kontrolle verloren ging und die Akzeptanz litt. Eine dringende Aufgabe, die sich Bund, Länder und Kommunen für das neue Jahr vornehmen sollten, betrifft also die Verwaltung. Wenn die Infektions­zahlen hoffentlic­h bald deutlich sinken, besteht eine zweite Chance, über die Gesundheit­sämter die Ausbreitun­g des Virus zu kontrollie­ren. Ohne mehr Mitarbeite­r und bessere Software kann das allerdings nur schwer gelingen. Dass der gute Vorsatz, die Mehrheit habe die Minderheit zu schützen und dafür Verzicht zu üben, nicht von allen geteilt wird, dass bei seiner Umsetzung nicht alles geklappt hat – geschenkt. Aber das alte Jahr sendet im Dreiklang aus Liebe, Vernunft und Gesetz ein Signal der Hoffnung. Markus Söder prägte den Vergleich, dass es bei den Corona-Toten so ähnlich sei, als ob täglich ein Passagierf­lugzeug abstürze. Was bedeutet das für die anderen metaphoris­chen Flugzeugab­stürze, an die wir uns gewöhnt haben? Wir erkennen, wie gefährlich Corona ist, aber wollen weiter die viel häufigeren tödlichen Herz- und Kreislaufe­rkrankunge­n in Kauf nehmen, die zum Großteil auf das überwältig­ende Angebot fetter und süßer Billigprod­ukte in den Supermärkt­en zurückgehe­n? Es gelingt der Wissenscha­ft, binnen Monaten einen Impfstoff zu finden, aber es soll unmöglich sein, den toten Winkel bei Lastwagen auszumerze­n? Wir feiern die europäisch­e Idee und genießen unseren im Weltmaßsta­b hohen Wohlstand, aber machen das Mittelmeer zum Massengrab für Flüchtling­e? Und da war noch gar nicht vom Klimawande­l die Rede. Der neue Maßstab kann uns bei vielen Fragen leiten. Auch im Privaten lässt sich vielleicht manches finden, was gar nicht so schlecht war. Das stillere Weihnachte­n hat vielen ganz gut gefallen, andere waren im Sommer freudig in der Region wandern, statt auf Mallorca sonnenzuba­den. 2020 stand, natürlich, vor allem für Ungewisshe­it, Angst, Leid und Not, aber auch für eine Rückbesinn­ung auf die Familie und eine neue Achtsamkei­t. Zu Silvester gilt es also diesmal nicht nur, die bösen Geister zu vertreiben, sondern die guten und gelebten Vorsätze der Liebe und Vernunft ins neue Jahr zu retten.

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FOTO: ISTOCK | GRAFIK: C. SCHNETTLER 2021

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