Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich

Als die Atomrakete im Vorgarten landete.

In einem 40 Jahre alten Film wird an einen kuriosen Unfall in Wildenrath erinnert. Damals verunglück­te ein Lkw der Bundeswehr und eine Atomrakete landete im Vorgarten eines Hauses an der Heinsberge­r Straße.

- VON MICHAEL HECKERS

WILDENRATH In der aktuellen Corona-Pandemie ist häufig von Krisenzeit die Rede und von Bedrohung der Gesellscha­ft. Gefährlich­e Zeiten für die Menschheit gab es aber immer schon, allerdings aus höchst unterschie­dlichen Gründen. So entwickelt­en sich die 1980er Jahre wegen der weltweiten Aufrüstung zu einem besonders gefährlich­en Jahrzehnt. Sowjetisch­e SS-20-Raketen, atomare Aufrüstung der amerikanis­chen Mittelstre­ckraketen Pershing II, Flugabwehr­körper des Typs Cruise Missiles, Nato-Doppelbesc­hluss – die Welt stand damals am Rande des dritten Weltkriegs. Und mittendrin war die Stadt Wegberg, wo sich mehrere Jahrzehnte lang eine der größten Verteidigu­ngsanlagen des westlichen Bündnisses befand. Im Jahr 1981, vor genau 40 Jahren, dokumentie­rte der TV-Journalist Andrej Bockelmann, dass damals im Wegberger Stadtgebie­t das Herzen des Raketenzen­trums Niederrhei­n lag.

„Nirgendwo in der Bundesrepu­blik habe ich vom Auto aus so viele Raketen entdeckt wie auf meiner Fahrt nach Wegberg“, beginnt Andrej Bockelhman­n seine TV-Dokumentat­ion mit dem Titel „Mit Raketen leben“, aus dem Jahr 1981, die auch bei Youtube zu finden ist. Zu sehen sind dabei Flugabwehr­raketen, die damals rund um den Flughafen der britischen Luftstreit­kräfte Royal Air Force (RAF) in Wegberg-Wildenrath postiert waren.

In seiner TV-Dokumentat­ion gelingt es Andrej Bockelmann und Kameramann Ian Millar, das Bedrohungs­szenario zu Zeiten des Kalten Krieges einzufange­n. Von den Flughäfen der britischen Royal Air Force in Wildenrath und Elmpt aus drehten damals Düsenbombe­r ihre Alarmberei­tschaft-, Abschrecku­ngsund Übungsrund­en. Massiver Fluglärm gehörte damals für viele Menschen in Wegberg, Wassenberg und Erkelenz zum ganz normalen Alltag. Einige Bürger engagierte­n sich in einer örtlichen Bürgerinit­iative, die von der Friedensbe­wegung unterstütz­t wurde. Hartnäckig hielt sich das Gerücht, dass im Wald bei Arsbeck amerikanis­che Atomrakete­n des Typs Pershing II und Cruise Missiles lagerten, die sich auch als Angriffswa­ffen eigneten und mit denen im Ernstfall in kürzester Zeit die Kampfflugz­euge in Wildenrath und Elmpt hätten bestückt werden können. Offiziell bestätigt wurde die Lagerung von Atomwaffen in Arsbeck von Seiten des Militärs nie.

Ein kurioser Unfall aus der Zeit des Kalten Krieges ist in dem Film von Andrej Bockelmann auch dokumentie­rt. So weist der Filmemache­r auf eine Schleifspu­r auf der Heinsberge­r Straße in Wildenrath (alte Bundesstra­ße 221) hin, die daran erinnerte, dass dort 1979 ein Sattelschl­epper der Bundeswehr umstürzte und plötzlich mitten in Wildenrath eine Atomrakete im Vorgarten eines Hauses lag. „Es gab und gibt gute Gründe für eine Beunruhigu­ng der Bevölkerun­g“, merkt Andrej Bockelmann dazu in seiner TV-Dokumentat­ion an.

Was war damals in Wildenrath passiert? Aus Zeitungsbe­richten geht hervor, dass ein etwa 15 Meter langer Sattelschl­epper der Bundeswehr aus Teveren am Montag, 23. Juli 1979, gegen 16.30 Uhr in der scharfen Kurve der Heinsberge­r Straße verunglück­t war. Das Fahrzeug hatte eine Rakete geladen, die bei dem Unfall im Vorgarten eines Hauses landete. Das Militärfah­rzeug hatte in der scharfen Rechtskurv­e das Gleichgewi­cht verloren und war auf ein entgegenko­mmendes englisches Auto gestürzt, heißt es in den Zeitungsbe­richten weiter. Der Fahrer des Sattelzuge­s soll ein 24-jähriger Bundeswehr­soldat aus Erkelenz gewesen sein. Er und sein 20 Jahre alter Beifahrer seien mit schweren Verletzung­en ins Wegberger Krankenhau­s gebracht worden, ein dritter Mitfahrer habe leichte Verletzung­en erlitten. Die beiden Briten (27 und 23 Jahre alt), die im Auto saßen, waren Angehörige der Royal-Air-Force Wildenrath und konnten aus dem völlig zerstörten Fahrzeug mit leichten Verletzung­en geborgen werden. Sie seien mit dem Schrecken davongekom­men, heißt es weiter.

Der Schaden bei dem Unfall in Wildenrath, bei dem eine Atomrakete im Vorgarten landete, wurde damals auf rund 1,5 bis zwei Millionen Mark geschätzt. Die Unfallstel­le war sofort zum militärisc­hen Sperrgebie­t erklärt worden. Spezialist­en der Bundeswehr sollten am Tag nach dem Unfall den verunglück­ten Sattelzug samt Rakete nach Teveren transporti­eren.

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RP-FOTO: VOEN (ARCHIV) In der scharfen Kurve der Heinsberge­r Straße in Wildenrath stürzte am Montag, 23. Juli 1979, ein Sattelschl­epper der Bundeswehr um, der eine Rakete geladen hatte. Der Bereich wurde sofort zum militärisc­hen Sperrgebie­t erklärt.
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FOTO: SCREENSHOT Auch der frühere Erkelenzer RP-Redaktions­leiter Folkmar Pietsch (r.) ist in der TV-Dokumentat­ion von Andrej Bockelmann zu sehen.
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RP-FOTO: JOSEF SCHOPHOVEN (ARCHIV) Die Phantoms der Royal Air Force waren bis 1991 auf dem RAF-Flughafen in Wildenrath stationier­t.
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RP-FOTO: JOSEF SCHOPHOVEN Eine Bürgerinit­iative kämpfte gegen den Fluglärm.

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