Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich
Die doppelte Moral der EU
Brüssel beklagt die Zustände in den Lagern an der Balkanroute. Eine Aufnahme derer, die dort vegetieren, kommt aber für die wenigsten Politiker infrage. Nicht einmal in der Union ist menschenwürdige Behandlung garantiert.
So fürsorglich kümmert sich die Europäische Union sonst selten um Flüchtlinge. „Die Situation ist vollkommen inakzeptabel“, meint der EU-Sondergesandte für Bosnien, Johann Sattler, nach einem Besuch in dem Balkanstaat, in dem mehrere Hundert Migranten nach einem Brand ihres Lagers in der Nähe der Gemeinde Lipa bei Minustemperaturen im Freien ausharren müssen. Das Leben und die Grundrechte dieser Menschen seien „ernsthaft in Gefahr“, mahnt der Brüsseler Diplomat.
Sein Chef Josep
Borrell, der EU-Außenbeauftragte, ist sogar noch deutlicher. „Wir rufen die Behörden dringend auf, die Menschen nicht im
Kalten und ohne Zugang zu sanitären Anlagen zu lassen, mitten in der globalen Pandemie“, fordert der Spanier. 3,5 Millionen Euro will die EU als Notfallhilfe bereitstellen – zusätzlich zu den bereits ausgezahlten 4,5 Millionen Euro.
Tatsächlich ist die Lage der vornehmlich aus Afghanistan und anderen Ländern des Nahen und Mittleren Ostens geflohenen Menschen hoffnungslos. 900 vor allem junge Männer vegetieren auf dem Gelände des abgebrannten Lagers dahin; seit Samstag nehmen viele von ihnen aus Protest keine Nahrung mehr zu sich. In den Wäldern der Umgebung halten sich weitere 2000 Menschen auf, wie die Organisation Seebrücke vermutet, eine zivilgesellschaftliche Gruppe, die sich für Flüchtlinge einsetzt. Die Verlegung der Migranten in eine Kaserne bei Sarajewo wie auch die Rückführung in das ursprüngliche Lager Bira in der Provinzstadt Bihac, in dem die Geflüchteten bis September 2020 lebten, scheiterte am Widerstand der lokalen Politiker.
Doch sosehr sich die EU für humanitäre Hilfe und die Einhaltung der Menschenrechte in Bosnien starkmacht – eine Einreise in die Mitgliedstaaten der
Union kommt weder für Borrell noch für andere Funktionsträger in Brüssel infrage. In Berlin hat die menschenunwürdige Situation der Flüchtlinge auf der Balkanroute gar einen Koalitionskrach ausgelöst. Der aus NRW stammende SPD-Fraktionsvize Achim Post spricht sich für eine Aufnahme der Menschen aus. Die CDU-Politiker Friedrich Merz und Thorsten Frei warnen vor einem Anreiz zur grenzenlosen Migration nach Europa. Derweil geht das Tauziehen weiter – auf dem Rücken von Flüchtlingen, die von Frost und Hunger bedroht sind. Seit Samstag stellen bosnische Soldaten Armeezelte auf. Doch es fehlt an sanitären Anlagen, mobilen Heizungen und frischem Wasser.
Mit dem humanitären Einsatz im Drittstaat Bosnien lenkt die EU auch vom Verhalten ihrer Mitgliedsländer ab, die eine Einreise der Flüchtlinge mit allen Mitteln verhindern wollen. „Die Europäische Union toleriert die brutale Praxis der Staaten an ihrer Außengrenze, Flüchtlinge mit Gewalt zurückzuweisen, sie zu demütigen und ihnen ein faires Verfahren zu verweigern“, meint Karl Kopp, der Leiter Europa der Organisation Pro Asyl, die sich für den Flüchlingsschutz weltweit einsetzt. Der EU attestiert die Nichtregierungsorganisation ein „Totalversagen“.
Denn nicht einmal innerhalb der EU-Grenzen garantiert Europa eine menschenwürdige Behandlung der Flüchtlinge. Auf den griechischen Inseln versinkt ein humanitäres System der Aufnahme und Verteilung von Migranten buchstäblich jeden Winter im Schlamm. „Die Lage auf den griechischen Inseln hat sich seit dem Brand in Moria nochmals verschlechtert“, findet Sascha Schießl, der im Koordinationsrat der Organisation Seebrücke sitzt.
Mehr als 7000 Flüchtlinge sind jetzt in einer Zeltstadt neben dem früheren Vorzeigelager Karatepe untergebracht, darunter ein Drittel Kinder. Zwar fließt jede Menge Geld in die Lager vor Ort. „Trotzdem
ist ein menschenwürdiger Umgang mit den Geflüchteten noch immer im embryonalen Stadium“, empört sich der Pro-Asyl-Vertreter Kopp.
Zwar hat Deutschland mittlerweile nach Zahlen des Flüchtlingsrats Niedersachsen rund 1500 Migranten von den griechischen Inseln aufgenommen – mehr als jeder andere Staat in der EU. Den Aufbau eines Schutzsystems verweigert aber auch die Bundesregierung, obwohl sie in ihrer Ratspräsidentschaft die Pläne dafür hätte vorantreiben können. Die brutale Unterbrechung der Balkanroute – ob durch Zurückweisungen an der grünen Grenze, fehlende Hilfeleistung für Flüchtlingsboote oder das Grenzregime der südosteuropäischen EU-Mitglieder – kommt auch ihr im Grunde gelegen. „Es fehlt in der Europäischen Union der politische Wille, an den menschenunwürdigen Zuständen in Bosnien und auch auf den griechischen Inseln etwas zu verändern“, fasst Kopp die Brüsseler Haltung zusammen: „Die europäische Politik setzt auf Abschreckung und Abschiebung, nicht auf ein humanes Schutzsystem.“
Natürlich birgt eine Lockerung des harten Grenzsystems Risiken. Rund 415.000 Asylanträge haben die Menschen in der EU von Januar bis November 2020 gestellt. Das könnten trotz der Corona-Pandemie schnell mehr werden. Denn die Konflikte im Mittleren Osten, aber auch in Afrika haben zuletzt zugenommen. Sollte die Pandemie sich südlich des Mittelmeers schneller ausbreiten, bestehen zusätzliche Anreize, die bessere medizinische Versorgung in Europa aufzusuchen, zumal auch die Wirtschaft dort in einer erheblich besseren Verfassung ist.
Das rechtfertigt aber nicht den Verzicht auf Menschen- und Völkerrecht. „Die illegalen Zurückweisungen an der Außengrenze der Europäischen Union müssen ein Ende haben“, fordert deshalb Flüchtlingsexperte Schießl. Auch daran ist die Bundesrepublik zumindest indirekt beteiligt. Denn die Fahrzeuge und Wärmebildkameras der kroatischen Polizei kamen aus Deutschland – als Geschenk.
„Die europäische Asylpolitik setzt auf Abschreckung“Karl Kopp Europachef Pro Asyl