Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich
Ein Erpressungsversuch vor der Stichwahl
US-Präsident Donald Trump forderte Georgias Innenminister zur Manipulation der Wahlergebnisse auf. Warum gerade jetzt?
WASHINGTON Wieder ist es der Mitschnitt eines Telefonats, der einen Sturm der Proteste gegen Donald Trump auslöst. Wie schon im Sommer 2019, als er seinen ukrainischen Amtskollegen Wolodymyr Selenskyj aufforderte, ihm Wahlkampfmunition gegen Joe Biden zu liefern, klingt der amerikanische Präsident wie ein Erpresser, der seine Macht missbraucht, um seinen Willen durchzusetzen. Diesmal löst ein am Samstag geführtes, rund einstündiges Gespräch mit dem Innenminister Georgias Empörung aus: Trump drohte seinem Parteifreund unverhohlen mit Konsequenzen.
Zugespielt wurde die Tonaufnahme der „Washington Post“, die sie in voller Länge ins Netz stellte. „Schauen Sie, ich will nur eines, ich will 11.780 Stimmen finden“, sagt Trump zu Brad Raffensperger, einem Republikaner, dem die Aufsicht über die Wahlen in dem südlichen Bundesstaat obliegt. Joe Biden hatte das Votum dort mit 11.779 Stimmen Vorsprung für sich entschieden. Zwei Nachzählungen in Folge, eine per Maschine, eine per Hand, hatten Bidens Sieg bestätigt, sodass auch die Wahlleute Georgias pflichtgemäß ihre Stimmen für den Demokraten abgaben. Das alles hinderte dessen Widerpart nicht daran, Raffensperger quasi in der Nachspielzeit zum groben Foul aufzufordern.
Es könne nicht sein, dass er verloren habe, es müsse Betrug im Spiel sein, wiederholte Trump, was er schon seit Wochen behauptet. „Die Menschen in Georgia sind wütend. Die Menschen im Land sind wütend.“Raffensperger solle sich die
Sache noch einmal anschauen: „Es ist nichts Falsches daran zu sagen, dass Sie nachgerechnet haben.“Wenn der Minister das tue, verdiene er sich echten Respekt, schmeichelt der Präsident. Als Raffensperger kühl entgegnet, Trumps Daten seien nicht akkurat, die offiziellen Angaben dagegen von Gerichten bestätigt, schlägt er andere Töne an. „Sie wissen, was getan wurde, und
Sie berichten nicht darüber“, wirft er dem Mann in Atlanta vor, wobei er seine Manipulationstheorien zu erwiesenen Fakten erklärt. „Wissen Sie, das ist eine Straftat. Das dürfen Sie nicht zulassen. Das ist ein großes Risiko für Sie und Ihren Anwalt. Ein großes Risiko.“
Demokratische Abgeordnete in Washington vergleichen das Verhalten Trumps denn auch mit dem eines Mafiabosses. Alexandria Ocasio-Cortez, eine der Symbolfiguren des linken Flügels ihrer Partei, fordert ein zweites Amtsenthebungsverfahren gegen den Staatschef, auch wenn der in zwei Wochen ohnehin seinen Hut nehmen muss. Der Kalifornier Adam Schiff, federführend beim ersten, erfolglosen Impeachment-Versuch, spricht von einer Verachtung für die Demokratie,
die sich einmal mehr manifestiere. „Wahrscheinlich kriminell. Und ein weiterer Missbrauch der Macht durch einen korrupten Mann, der ein Despot wäre, würden wir es erlauben.“Auch in den Reihen der Konservativen finden einige den Mut, sich ohne Wenn und Aber von Trump zu distanzieren. Adam Kinzinger, ein Volksvertreter aus Illinois, charakterisiert das Telefonat als „absolut beschämend“.
Was Beobachter indes vor Rätsel stellt, ist das Timing des Erpressungsversuchs, so kurz vor zwei Senatsstichwahlen in Georgia, die darüber entscheiden, ob der künftige Präsident Biden seine Agenda im Kongress durchsetzen oder ob ihn die Opposition ausbremsen kann. Zwar rührt Trump kräftig die Werbetrommel für Kelly Loeffler und David Perdue, die beiden Republikaner, die ihr Mandat verteidigen. Doch wenn er Zweifel am korrekten Ablauf des Präsidentschaftsvotums in Georgia sät, könnte dies manche seiner Fans dazu bringen, den anstehenden Urnengang zu boykottieren. Ob es so kommt, ob der Bumerang-Effekt für die Republikaner tatsächlich eintritt, bleibt abzuwarten. Es gibt auch Kommentatoren, die in den beiden Stichwahlen ein letztes Referendum über Trumps vier Jahre im Oval Office sehen. Nach dieser Lesart könnten seine Anhänger erst recht alle Kräfte mobilisieren, um ihrem Idol zu einem letzten Triumph zu verhelfen.
Herausgefordert wird das republikanische Duo von Raphael Warnock (51), einem politisch auf der Linken angesiedelten Geistlichen, und Jon Ossoff, einem 33-Jährigen, der bislang Dokumentarfilme produzierte.
Da kein Kandidat beim ursprünglichen Votum am 3. November mindestens die Hälfte der Stimmen erhielt, muss nach den Gesetzen Georgias ein zweiter Durchgang entscheiden. Gewinnen sowohl Warnock als auch Ossoff, kommen die Demokraten im US-Senat auf 50 Sitze. De facto wäre es eine Mehrheit, denn bei einem Patt würde das Votum der Vizepräsidentin Kamala Harris den Ausschlag geben. In dem Fall könnte die Regierung Biden vieles von dem durchsetzen, was sie sich vorgenommen hat.
Die Blicke sind vor allem auf Warnock gerichtet: Zieht er in die Kammer ein, schreibt er Geschichte. Es wäre das erste Mal, dass ein schwarzer Politiker Georgia, eines der Schwergewichte der Südstaaten-Konföderation des amerikanischen Bürgerkriegs, im Senat repräsentiert. Hinzu kommt die Symbolik seines bisherigen Amtes: An der Ebenezer Baptist Church, deren Pfarrer er seit 2005 ist, predigte einst Martin Luther King.