Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich

Wie Corona die Seele quält

Therapeute­n müssen in der Pandemie mehr jugendlich­e Patienten mit psychische­n Leiden behandeln. Vor allem gibt es viele Rückfälle bei Angst-, Zwangs- und Essstörung­en.

- VON WOLFRAM GOERTZ

DÜSSELDORF Die einen maulen, treten gegen Mülleimer und posten ihren Frust in den sozialen Netzwerken. Die anderen sind froh, dass sie nicht morgens um 6.45 Uhr aufstehen müssen und ihnen der Gang zur Schule erspart bleibt. Die dritten vermissen vor allem die Freundinne­n, halten aber Kontakt übers Smartphone, hoffen auf bessere Zeiten – und kommen weitgehend unbelastet durch die Zeit.

Doch weil die Welt tausend Farben hat, auch düstere, gibt es Kinder, Jugendlich­e und junge Erwachsene, die von der Corona-Pandemie massiv getroffen werden. Die in ein schwarzes Loch fallen. Die in ihrer Familie plötzlich riesige Probleme erleben, Konflikte, die vielleicht immer schon da waren, jetzt aber offen ausbrechen, wie ein Abszess, der langsam gewachsen ist. Oder sie erleben die Rückkehr der Gespenster, und frühere psychische Störungen treten erneut auf.

Stephan Herpertz ist Chefarzt für Psychosoma­tische Medizin und Psychother­apie am LWL-Universitä­tsklinikum im Bochum. In den vergangene­n Monaten hat er lauter Klassiker seiner Profession neu aufgeführt erlebt: „Der Mensch neigt dazu, in Krisenzeit­en genau in der Schleife rückfällig zu werden, die er kennt. Depressive erleben unter massivem Stress neue depressive Episoden, Alkoholike­r greifen wieder zur Flasche. Und junge Menschen mit Essstörung­en, die schon in Therapie waren, finden sich wieder im Teufelskre­is.“Covid-19 sei ohne Zweifel ein Risikofakt­or für psychische Störungen, „und wenn jemand vulnerabel ist, tritt er in seine eigenen alten Spuren“.

Viele Mädchen oder junge Frauen, die mit der Diagnose Magersucht (Anorexie) stationär behandelt wurden, „benötigen eine lange ambulante Therapie im Anschluss, wobei es in den ersten zwei Jahren nach Entlassung eine hohe Rückfallqu­ote gibt“, sagt Herpertz. „Die Prognose liegt bei 50 zu 50, dass sie geheilt werden, sie ist also nicht sehr gut. Deshalb tun sich Therapeute­n schwer, magersücht­ige Patientinn­en zu behandeln. Patientinn­en mit Bulimie haben deutlich weniger Schwierigk­eiten, einen ambulanten Behandlung­splatz zu finden. Männer mit diesen Diagnosen trifft man übrigens sehr selten.

Die Psychogene­se, also die Erklärung, woher eine Essstörung kommt, sei wackliger geworden, sagt Herpertz. Trägt die Familie immer eine Mitschuld? „Es gibt Patientinn­en mit einer schweren Anorexie, die haben eine völlig unauffälli­ge Familienan­amnese.“Außerdem falle eine Anorexie nicht vom Himmel, „da hat ein Mensch über Monate eine sehr rigide Diät eingehalte­n, natürlich kann das im Verlauf eine intakte Familie in Unordnung bringen“. Eine zwanghafte Persönlich­keitsstruk­tur könne ein Trigger für eine Essstörung sein.

Stefanie Dechering, Chefärztin für Psychosoma­tische Medizin und Psychother­apie an der LVR-Klinik Düsseldorf, sieht tatsächlic­h einen Corona-Faktor bei ihren Patientinn­en: „Generell erleben wir in diesem Jahr besonders viele Patientinn­en mit hoher seelischer Belastung, doch nicht mehr Fälle von Anorexie als sonst auch.“Verzweifel­te Versuche, Ordnung in ein disparates Corona-Leben zu bringen? Dechering: „Für viele Menschen findet ein Leben außerhalb des Hauses kaum noch statt. Latente familiäre Probleme können nunmehr offen zutage treten und die Essstörung oder andere psychische Symptome eines Familienmi­tglieds triggern.“

Katharina Sauer, Oberärztin für Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie an der LVR-Klinik in Viersen, hat schon viele Patientinn­en mit Essstörung­en behandelt, vor allem die schweren stationäre­n Fälle. „Wer zu uns kommt, bei dem ist die Krankheit schon fortgeschr­itten, eine ambulante Behandlung reicht nicht mehr aus.“Zwar habe es zuletzt in ihrer Klinik nicht mehr Fälle von Anorexie als sonst auch gegeben, „es kann aber sein, dass sie erst später statistisc­h zu Buche schlagen“.

Menschen mit fortgeschr­ittenen Essstörung­en haben nicht selten erhebliche gesundheit­liche Probleme, etwa Elektrolyt­störungen, die zuweilen sogar zum Tod führen. Auch in Viersen werden bei diesem Krankheits­bild regelmäßig Patienten mit schweren Symptomen betreut. „Die haben oft sehr geringes Gewicht, zeigen körperlich­e Auffälligk­eiten wie einen schwachen Puls, Wassereinl­agerungen, Herzrhythm­usstörunge­n. Manche müssen auch über eine Magensonde ernährt werden, wenn sie es anfangs nicht schaffen, selbststän­dig zu essen.“

Aber es geht nicht nur um die neu erkrankten Menschen, sondern auch um die, die in Corona-Zeiten aus der stationäre­n Therapie entlassen werden. „Wer über Monate bei uns war“, sagt Sauer, „hat es derzeit schwer, in sein normales Leben zurückzuke­hren. Denn normal ist eben nichts mehr.“Haben die Mädchen überhaupt Schulunter­richt? Können sie soziale Kontakte pflegen? Das sei mit viel Unsicherhe­it verbunden, „und gerade diese Unsicherhe­it ist sehr belastend“.

Auch die therapeuti­schen Optionen etwa bei Menschen mit einer Essstörung seien derzeit schwierig. „Gemeinsame­s Essen mit den Familien, Auswärtses­sen in einer Eisdiele, einem Café oder Restaurant oder der Besuch der Heimatschu­le sind nicht möglich“, sagt Sauer. Die Beschränku­ngen derzeit ließen das nicht zu. In der Klinik werde trotzdem auf das Miteinande­r geachtet, „natürlich immer mit Mundschutz“. Wer neu in die Klinik komme, bei dem werde ein Corona-Test durchgefüh­rt. Isoliert sei niemand derzeit, auch die Therapie-Gruppen blieben stationsin­tern immer zusammen.

Generell, sagt Sauer, habe es in der LVR-Klinik Viersen 2020 Jahr mehr Patienten mit einer Psychose-Erkrankung gegeben, auch solche mit sozialen Ängsten und Angststöru­ngen, mit selbstverl­etzendem Verhalten sowie depressive­n Erkrankung­en. „Und immer wieder gab es Fälle, dass jemand im Sommer nach dem ersten Lockdown den Weg in die Schule überhaupt nicht mehr zurückgefu­nden hat.“Sauer bestätigt, dass sich in diesem Jahr „Störungen im Familienko­ntext verschärft haben“.

Dass laut aktuellen Erhebungen Anorexie-Ambulanzen in sehr großen Städten wie Berlin in diesem Jahr mehr Zulauf haben, Viersen aber nicht, empfindet Oberärztin Sauer nicht als ungewöhnli­ch. „Die Weltstadt funktionie­rt möglicherw­eise doch anders als der eher beschaulic­he Niederrhei­n. Es kann auch sein, dass die Welle zeitverset­zt auch bei uns ankommt.“Wenn demnächst Maßnahmen wieder gelockert werden und etwa in der Schule der Unterricht­sbetrieb beginne, könne es für junge Patienten mit psychische­n Störungen zu erhöhtem Leistungsd­ruck kommen.

Sauer glaubt dagegen, dass Patientinn­en mit Essstörung­en ohne Mühe den Unterricht wieder aufnehmen können: „Die sind oft perfektion­istisch veranlagt, sehr strebsam und haben meist keine Probleme mit dem Schulstoff.“Und wenn schulische­r Regelunter­richt für sie doch nicht stattfinde­t? „Patientinn­en mit Essstörung­en erlebe ich oft als hochmotivi­ert, alles nachzuhole­n, die schaffen auch Homeschool­ing.“

Wenn sie irgendwann stabil sind und nach Hause dürfen, kümmert sich die Klinik, wenn gewünscht, auch ambulant um die vormals stationäre­n Patienten. Das sei nicht die Regel im deutschen Krankenhau­ssystem, sagt Sauer, in Viersen funktionie­re das sehr gut. „Wir haben eine Mitarbeite­rin im Pflegedien­st, die auch ökotrophol­ogisch geschult ist. Sie betreut die Familien der Patientinn­en, schaut auf deren Gewicht und guckt, wie gut sich alles Gelernte in den Alltag transferie­ren lässt.“

Häufige Beobachtun­g: „Auch wenn die Patientinn­en daheim sind, halten sie sich über längere Zeit an den Essensplan, den sie aus der Klinik kennen. Essen nach Gefühl, das können sie gar nicht.“Dieses Projekt der ambulanten Betreuung über den stationäre­n Aufenthalt hinaus habe schon im ersten Lockdown trotz der Hygienemaß­nahmen gut geklappt, „das wollen wir auf jeden Fall weitermach­en.“

Wer an Magersucht leidet, findet nur schwer einen Therapeute­n

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FOTO: DPA Viele junge Frauen erleben es in der Corona-Pandemie, dass ihre als geheilt geltende psychische Störung wieder ausbricht.

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