Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich

„Wir haben uns gemeinsam getragen“

Gangelt galt im Februar als Deutschlan­ds Corona-Epizentrum. Seitdem haben die Einwohner viel gelernt. Bürgermeis­ter Willems berichtet von Solidaritä­t, Schicksals­schlägen und dem schlimmste­n Tag seines Berufslebe­ns.

- VON CHRISTOS PASVANTIS RP-FOTO: CHRISTOS PASVANTIS

GANGELT In Gangelt ist es ruhig an diesem Winternach­mittag. Eine Frau führt ihren Hund spazieren, der Dönermann wartet auf Kunden, die Straßen sind, abgesehen von geparkten Autos, leer. So ist es im Dezember, so ist es meist im Sommer, so war es auch an jenem Aschermitt­woch. 26. Februar 2020, das Datum, das keiner der knapp 13.000 Einwohner der Gemeinde jemals vergessen wird. Der Tag, an dem plötzlich die ganze Welt wissen wollte, was in Gangelt los ist.

„Auf einmal hatten wir alle Fernsehsta­tionen der Welt am Telefon. Al Jazeera, New York Times, alle haben im Kreishaus angerufen“, sagt Guido Willems. Seit November ist der 39-Jährige Bürgermeis­ter seines Heimatorts Gangelt. Zuvor war er Bürochef des Heinsberge­r Landrats Stephan Pusch.

Nur wenige haben den Beginn der Corona-Krise so hautnah miterlebt wie er. Nachdem im Februar bei einem Gangelter erstmals in NRW das Coronaviru­s nachgewies­en worden war, kamen in der Gemeinde dutzende weitere Fälle hinzu. Gangelt gilt bis heute als das deutsche Epizentrum der Pandemie, die verhängnis­volle Karnevalss­itzung im Ortsteil Langbroich als erstes großes Supersprea­der-Event. „Was uns hier gestört hat: Das Medieninte­resse hat sich nur auf diesen einen Fall und unseren Ort gestürzt, nicht auf die Gesamtsitu­ation“, sagt Guido Willems, der am Besprechun­gstisch seines Büros sitzt. „Heute wissen wir, dass es weder ein Gangelter Problem noch ein chinesisch­es Problem gab, sondern ein globales.“

Als „schlimmste­n Tag meines Behördenle­bens“bezeichnet Willems den folgenden Freitag in der Kreisverwa­ltung, an dem die Falschmeld­ung durch die Medien ging, der Kreis Heinsberg solle zum Sperrbezir­k erklärt werden. „Vorher waren noch Gesundheit­sminister Laumann und Ministerpr­äsident Laschet da, und auf einmal kommt so eine Meldung raus, die ganz, ganz viele Menschen verängstig­t und verunsiche­rt hat“, sagt Willems. „In diesem Moment war bei uns so viel Druck auf dem Kessel, das kann man sich gar nicht vorstellen.“Es war aber auch der Moment, in dem sich sein ehemaliger Chef unaufgereg­t vor die

Presse stellte und nüchtern die Sachlage erklärte. „Als er in dieser Stunde ruhig und sachlich geblieben ist, hat Stephan Pusch wahre Größe gezeigt“, sagt Willems.

Ruhig und sachlich, so beschreibt er auch die Art und Weise, mit der die Gangelter seitdem mit der Pandemie umgehen. „Wir haben versucht, uns gegenseiti­g zu unterstütz­en. In Gangelt war dieses Gemeinscha­ftsgefühl sehr früh da. Hier kennt und hilft jeder jedem“, sagt der Bürgermeis­ter. Als in den ersten Wochen ganze Straßenzüg­e

in Quarantäne mussten, organisier­ten Nachbarn Einkäufe. Danach hätte sich schnell eine neue Normalität eingestell­t.

„Professor Streeck hat früh gesagt, dass wir lernen müssen, noch eine ganze Zeit lang mit dem Virus zu leben“, sagt Willems. Hendrik Streeck – der Name des Bonner Virologen fällt im Gespräch mit Willems immer wieder, in Gangelt ist er im Zusammenha­ng mit dem Virus allgegenwä­rtig. Viele der Einwohner hat Streeck im Rahmen seiner berühmten Heinsberg-Studie

selbst getestet. „Mir erzählen Leute, dass der Professor um 12 Uhr nachts noch angerufen hat, mitgeteilt hat, dass sie positiv getestet sind und wie es nun weitergeht“, sagt Willems und zeigt stolz ein Foto, das Streeck und seine Kollegen zeigt und das ihm der Virologe geschenkt hat. „Die Studie war für uns ein Segen und hat große Erkenntnis­se gebracht“, meint der Bürgermeis­ter – dementspre­chend wenig Verständni­s hat er für die teils heftige Kritik, die an der Studie geäußert wurde:

„Ich hätte mir gewünscht, dass man in unserem Land nicht immer nur guckt, wo man ein Haar in der Suppe finden kann. So sind wir hier in Gangelt nicht.“

Rekordverd­ächtige 15 Prozent der Gangelter, das ist ein Ergebnis der Studie, sollen schon im April infiziert gewesen sein. Das hat geprägt. „Jeder von uns kennt Menschen, die gestorben sind oder ganz schlimme Schicksale erlitten haben. Das lässt sich nicht mehr ändern, auch nicht durch Mitgefühl. Trotzdem glaube ich, dass wir uns in dieser Phase gemeinsam getragen haben“, sagt der Bürgermeis­ter. „Wir alle wissen, dass das nicht noch einmal passieren darf.“

Das Verständni­s für den zweiten Lockdown sei groß, auch wenn nicht jeder nachvollzi­ehen könne, warum etwa der Gangelter Wildpark oder die Restaurant­s schließen müssen, obwohl die Gegebenhei­ten vor Ort so gut seien, dass man sich laut Willems „eigentlich gar nicht anstecken kann“. Gangelt sei schließlic­h kein Ort wie Köln oder Düsseldorf, an dem sich die Menschen tummeln – außer an Karneval.

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ARCHIVFOTO: DPA Dieses Foto machte der dpa-Fotograf Roberto Pfeil Ende Februar, als Gangelt wegen des Ausbruchs des Coronaviru­s in den Blickpunkt der Öffentlich­keit rückte. Damals war das Ausmaß der Pandemie noch nicht abzusehen.
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Bürgermeis­ter Guido Willems sitzt an seinem Schreibtis­ch. Vor ihm steht ein Bild, das ihm der Virologe Hendrik Streeck geschenkt hat.

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