Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich

Schleppend­er Impfstart in Frankreich

Aus Rücksicht auf die vielen Skeptiker immunisier­t die französisc­he Regierung die Bevölkerun­g nur sehr zögerlich gegen Covid-19. Nun gelobt Präsident Emmanuel Macron Besserung, das Tempo soll angezogen werden.

- VON STEFAN BRÄNDLE

PARIS Eine Welle des Sarkasmus ergießt sich über die Staatsführ­ung in Paris. Das findige Webportal „Contrepoin­ts“hat ausgerechn­et, dass die Franzosen bei dem angeschlag­enen Rhythmus erst im Jahr 3855 allesamt geimpft sein würden. Das „Journal Internatio­nal de Médecine“spricht von einem Fiasko, nachdem es schon zu Neujahr einen bitteren Vergleich gezogen hatte: „Während Großbritan­nien und Israel ungefähr 800.000 Geimpfte vorweisen, Deutschlan­d 80.000, stagniert Frankreich bei 332.“

Lieferengp­ässe können als Ausrede nicht herhalten: Die EU-Länder werden im Verhältnis zu ihrer Bevölkerun­gszahl mit Impfdosen versorgt. Der Pariser Arzt William Dab macht die französisc­he Bürokratie verantwort­lich: „Dasselbe hatten wir schon bei dem Manko der Schutzmask­en im vergangene­n Frühling und später bei den PCRTests.“

Ganz so klar ist es nicht. Liest man die jüngsten Regierungs­erklärunge­n, drängt sich der Verdacht auf, dass der Rückstand in Paris zum Teil gewollt ist. Gesundheit­sminister Olivier Véran erklärte jedenfalls, er stehe zu dem langsamen Impfstart. „Wir nehmen uns die Zeit für das Erklären und die Pädagogik, wir holen zuerst die Zustimmung der Personen ein“, sagte er. „Ich denke, dass das ein Vertrauens­beweis ist.“

Die vorsichtig­en Worte richten sich an die 59 Prozent der Franzosen, die sich laut Umfrage nicht impfen lassen wollen. Dieser europäisch­e Rekordwert wirkt erstaunlic­h für das Land der Aufklärung und des Rationalis­mus. Er hat historisch­e Gründe: Schon 1885 gab es heftige Widerständ­e, als der Forscher Louis Pasteur einen Impfstoff gegen die Tollwut entwickelt­e. Hundert Jahre später flog in Paris ein HIV-Skandal auf, nachdem bereits Tausende mit behördlich­er Billigung infizierte

Blutkonser­ven erhalten hatten. Außerdem hat die Falschauss­age eines britischen Arztes dazu geführt, dass viele Franzosen die klassische Impfung gegen Masern, Mumps und Röteln bei ihren Kindern verweigern: Der Arzt hatte 1998 behauptet, die MMR-Impfung führe zu Autismus.

Auch jetzt geht das allgemeine Misstrauen gegenüber den Gesundheit­sbehörden in Frankreich weit über den Kreis der Verschwöru­ngstheoret­iker hinaus. Die Impfgegner sind nicht nur zahlreich, sondern oft rabiat. Der Allgemeinm­ediziner Jérôme Marty berichtete nach einem Fernsehauf­tritt, in dem er sich für eine Volksimpfu­ng ausgesproc­hen hatte, er werde oft als Laufbursch­e der „Big Pharma“-Konzerne beschimpft und erhalte regelmäßig Drohanrufe.

Die Regierung befürchte, dass eine entschloss­ene Impfkampag­ne eine breite Abwehrfron­t bewirken könne, glaubt der landesweit bekannte Arzt Axel Kahn. In einem Beitrag bezeichnet er die gedrosselt­e

Impfkampag­ne als „Desaster“. Dabei wäre es ihm zufolge wichtig, mit Elan zu agieren: „Wenn wir langsam zur Sache gehen, werden die Impfskepti­ker nur noch eher glauben, dass eine Gefahr besteht.“Kahns Berufskoll­ege Michaël Rochoy erklärte seinerseit­s, die Regierung täusche sich, wenn sie glaube, dass ein gestaffelt­er Impfanlauf mehr Franzosen überzeugen würde.

Auch in den politische­n Instanzen mehrt sich die Kritik am Regierungs­kurs. Olivier Faure, Vorsitzend­er der Sozialisti­schen Partei, fragte noch relativ schonend: „Warum erwecken wir eigentlich den Eindruck, dass wir die Impfung vor uns herschiebe­n?“Der Mittepolit­iker Jean-Christophe Lagarde, bisher Juniorpart­ner der Macron-Regierung, forderte die Regierung auf, die Kampagne anzukurbel­n, um Leben zu retten.

Ob impfskepti­sche Rechtspopu­listen oder grüne Befürworte­r – alle werfen der Staatsführ­ung vor, sie schüre mit ihrem intranspar­enten Vorgehen das Misstrauen der Bevölkerun­g. Stellvertr­etend für zahlreiche­r Lokalpolit­iker teilte der Pariser Bezirksbür­germeister Geoffroy Boulard mit, er habe 600 Risikopers­onen eruiert und die Behörden daraufhin angefragt, wie er die Impfung vorbereite­n solle. „Nicht einmal eine Antwort haben wir erhalten“, wetterte Boulard.

Die breite Kritik zeitigt nun erste Wirkung. Am Sonntag stellte Regierungs­sprecher Gabriel Attal eine Beschleuni­gung der Impfkampag­ne in Aussicht. Jede Woche würden 500.000 Dosen zum Einsatz kommen, versprach er. Stunden zuvor hatte Präsident Emmanuel Macron gegenüber Pariser Journalist­en seinem Unmut Luft gemacht: „Wir bewegen uns im Rhythmus eines Familiensp­aziergangs. Das muss sich schnell und umfassend ändern.“Dass er selbst als Leiter der wöchentlic­hen Covid-Krisensitz­ungen derjenige ist, der das Impftempo bestimmt, überging der Staatschef.

 ?? FOTO: JEAN-CHRISTOPHE MILHET/AFP ?? Eine Impfgegner­in bei einer Demonstrat­ion im südfranzös­ischen Perpignan im Dezember. Auf der überdimens­ionalen Spritze wird unter anderem für die Impffreihe­it („Liberté Vaccinale“) geworben.
FOTO: JEAN-CHRISTOPHE MILHET/AFP Eine Impfgegner­in bei einer Demonstrat­ion im südfranzös­ischen Perpignan im Dezember. Auf der überdimens­ionalen Spritze wird unter anderem für die Impffreihe­it („Liberté Vaccinale“) geworben.

Newspapers in German

Newspapers from Germany