Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich
Schleppender Impfstart in Frankreich
Aus Rücksicht auf die vielen Skeptiker immunisiert die französische Regierung die Bevölkerung nur sehr zögerlich gegen Covid-19. Nun gelobt Präsident Emmanuel Macron Besserung, das Tempo soll angezogen werden.
PARIS Eine Welle des Sarkasmus ergießt sich über die Staatsführung in Paris. Das findige Webportal „Contrepoints“hat ausgerechnet, dass die Franzosen bei dem angeschlagenen Rhythmus erst im Jahr 3855 allesamt geimpft sein würden. Das „Journal International de Médecine“spricht von einem Fiasko, nachdem es schon zu Neujahr einen bitteren Vergleich gezogen hatte: „Während Großbritannien und Israel ungefähr 800.000 Geimpfte vorweisen, Deutschland 80.000, stagniert Frankreich bei 332.“
Lieferengpässe können als Ausrede nicht herhalten: Die EU-Länder werden im Verhältnis zu ihrer Bevölkerungszahl mit Impfdosen versorgt. Der Pariser Arzt William Dab macht die französische Bürokratie verantwortlich: „Dasselbe hatten wir schon bei dem Manko der Schutzmasken im vergangenen Frühling und später bei den PCRTests.“
Ganz so klar ist es nicht. Liest man die jüngsten Regierungserklärungen, drängt sich der Verdacht auf, dass der Rückstand in Paris zum Teil gewollt ist. Gesundheitsminister Olivier Véran erklärte jedenfalls, er stehe zu dem langsamen Impfstart. „Wir nehmen uns die Zeit für das Erklären und die Pädagogik, wir holen zuerst die Zustimmung der Personen ein“, sagte er. „Ich denke, dass das ein Vertrauensbeweis ist.“
Die vorsichtigen Worte richten sich an die 59 Prozent der Franzosen, die sich laut Umfrage nicht impfen lassen wollen. Dieser europäische Rekordwert wirkt erstaunlich für das Land der Aufklärung und des Rationalismus. Er hat historische Gründe: Schon 1885 gab es heftige Widerstände, als der Forscher Louis Pasteur einen Impfstoff gegen die Tollwut entwickelte. Hundert Jahre später flog in Paris ein HIV-Skandal auf, nachdem bereits Tausende mit behördlicher Billigung infizierte
Blutkonserven erhalten hatten. Außerdem hat die Falschaussage eines britischen Arztes dazu geführt, dass viele Franzosen die klassische Impfung gegen Masern, Mumps und Röteln bei ihren Kindern verweigern: Der Arzt hatte 1998 behauptet, die MMR-Impfung führe zu Autismus.
Auch jetzt geht das allgemeine Misstrauen gegenüber den Gesundheitsbehörden in Frankreich weit über den Kreis der Verschwörungstheoretiker hinaus. Die Impfgegner sind nicht nur zahlreich, sondern oft rabiat. Der Allgemeinmediziner Jérôme Marty berichtete nach einem Fernsehauftritt, in dem er sich für eine Volksimpfung ausgesprochen hatte, er werde oft als Laufbursche der „Big Pharma“-Konzerne beschimpft und erhalte regelmäßig Drohanrufe.
Die Regierung befürchte, dass eine entschlossene Impfkampagne eine breite Abwehrfront bewirken könne, glaubt der landesweit bekannte Arzt Axel Kahn. In einem Beitrag bezeichnet er die gedrosselte
Impfkampagne als „Desaster“. Dabei wäre es ihm zufolge wichtig, mit Elan zu agieren: „Wenn wir langsam zur Sache gehen, werden die Impfskeptiker nur noch eher glauben, dass eine Gefahr besteht.“Kahns Berufskollege Michaël Rochoy erklärte seinerseits, die Regierung täusche sich, wenn sie glaube, dass ein gestaffelter Impfanlauf mehr Franzosen überzeugen würde.
Auch in den politischen Instanzen mehrt sich die Kritik am Regierungskurs. Olivier Faure, Vorsitzender der Sozialistischen Partei, fragte noch relativ schonend: „Warum erwecken wir eigentlich den Eindruck, dass wir die Impfung vor uns herschieben?“Der Mittepolitiker Jean-Christophe Lagarde, bisher Juniorpartner der Macron-Regierung, forderte die Regierung auf, die Kampagne anzukurbeln, um Leben zu retten.
Ob impfskeptische Rechtspopulisten oder grüne Befürworter – alle werfen der Staatsführung vor, sie schüre mit ihrem intransparenten Vorgehen das Misstrauen der Bevölkerung. Stellvertretend für zahlreicher Lokalpolitiker teilte der Pariser Bezirksbürgermeister Geoffroy Boulard mit, er habe 600 Risikopersonen eruiert und die Behörden daraufhin angefragt, wie er die Impfung vorbereiten solle. „Nicht einmal eine Antwort haben wir erhalten“, wetterte Boulard.
Die breite Kritik zeitigt nun erste Wirkung. Am Sonntag stellte Regierungssprecher Gabriel Attal eine Beschleunigung der Impfkampagne in Aussicht. Jede Woche würden 500.000 Dosen zum Einsatz kommen, versprach er. Stunden zuvor hatte Präsident Emmanuel Macron gegenüber Pariser Journalisten seinem Unmut Luft gemacht: „Wir bewegen uns im Rhythmus eines Familienspaziergangs. Das muss sich schnell und umfassend ändern.“Dass er selbst als Leiter der wöchentlichen Covid-Krisensitzungen derjenige ist, der das Impftempo bestimmt, überging der Staatschef.