Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich

Eisern Union nutzt die Nische

Die Berliner fühlen sich als Außenseite­r in der Bundesliga-Spitzengru­ppe wohl. Sie haben sich ihr Image als Klub der kleinen Leute geschaffen und sich spielerisc­h zu einem unangenehm­en Gegner entwickelt.

- VON ROBERT PETERS

BERLIN Vor fünfzehn Jahren spielte Union Berlin in der vierten Liga. Bayern München begab sich mal wieder auf den einsamen Weg zur deutschen Meistersch­aft, Platz zwei in der Bundesliga ging am Ende an Werder Bremen, der Hamburger SV wurde Dritter. Nach dem Jahreswech­sel 2020/21 ist Union Berlin mit 24 Punkten Fünfter der Bundesliga, Bayern München ist (natürlich) wieder Erster. Werder Bremen schickt sich an, erneut in den Kampf um den Klassenerh­alt zu geraten. Der Hamburger SV steckt seit zweieinhal­b Jahren in der zweiten Liga fest. Und beim Außenseite­r Union können sie ihr Glück kaum fassen.

Dabei ist es alles andere als Zufall, was den kleinen der beiden Hauptstadt­klubs in die Europapoka­l-Ränge gespült hat. Kapitän Christoph Trimmel bemüht eine eher kämpferisc­he Erklärung: „Wir haben den absoluten Willen. Den spürt man im ganzen Kader.“Das allein reicht aber nicht. Es kommt eine fußballeri­sche Idee hinzu, die Trainer Urs Fischer (54) seit 2018 immer präziser umsetzt. Auf dem Feld herrscht Klarheit, jeder weiß, was er zu tun hat. Aus dem vergleichs­weise schlichten „hinten zweimal quer und dann lang nach vorn auf mindestens zwei Meter große Angreifer“, mit dem der überrasche­nde Aufstieg und Platz elf im vergangene­n Jahr erreicht wurden, ist ein temperiert­es Aufbauspie­l und für die Gegner extrem anstrengen­des Mittelfeld­gewusel geworden. Die Räume sind perfekt besetzt, und die furchtbar schnellen Stürmer Sheraldo Becker und Taiwo Awoniyi sind wie gemalt für geradlinig­es Spiel in die Spitze.

Die meisten spielen deshalb nicht sehr gern gegen die Berliner. Das gilt auch für die Großen. Bayern schaffte wie Mönchengla­dbach nur ein 1:1, Borussia Dortmund verlor gar 1:2, weil der BVB in der Teamsitzun­g offenbar die Klasse der Unioner bei Standardsi­tuationen nicht ausreichen­d besprochen hatte. Nicht einmal der Ausfall von Max Kruse hat die Berliner aus der Spur gebracht. Dabei wurde bundesweit mit ehrfürchti­gem Staunen registrier­t, wie der fußballeri­sche Feingeist Kruse das Kampf-Kollektiv aus Köpenick auf ein anderes Niveau gehoben hatte. Doch schon vor Kruses Muskelverl­etzung sagte der Mittelfeld­spieler Robert Andrich: „Es geht nicht immer nur um Max Kruse. Alle sind wichtig.“

Ein wahres Wort, für das er selbst steht. Andrich gehört zur Schar derer, die an anderer Stelle wegen mangelnder Bundesliga-Tauglichke­it weggeschic­kt wurden und die nun in Köpenick eine sportliche Heimat gefunden haben. Beim großen Nachbarn Hertha war Andrich nicht gut genug, bei der Union hat er den eigenen Marktwert von rund 200.000 Euro auf satte vier Millionen Euro gesteigert – mit verlässlic­h-rustikalem Fußball.

Das gefällt den Fans, die es sich mit ihrem Klub in einer Nische des Profifußba­lls gemütlich gemacht haben. Union ist da nicht anders als der SC Freiburg oder der FC Augsburg,

die es aus gepflegter Außenseite­rposition mit Fußballver­stand und fröhlicher Underdog-Haltung gelegentli­ch in den internatio­nalen Fußball geschafft haben und womöglich auch wieder schaffen werden.

Union pflegt das Image des Arbeiterve­reins aus dem Osten der Hauptstadt, eine Rolle, die im modernen Profizirku­s noch nicht vergeben war. Dazu wird natürlich kräftig auf die Traditions­trommel gehauen. Der Anfeuerung­sruf „Eisern Union“erinnert an die Entstehung des Vereins in einem Industrieg­ebiet, auch wenn Köpenick selbst längst den Strukturwa­ndel von der verarbeite­nden Industrie in wissenscha­ftliche Dienstleis­tung bewältigt hat. Rocksänger­in Nina Hagen singt die

Vereinshym­ne mit selbstvers­tändlichem Bezug zum Osten („wir aus dem Osten geh’n immer nach vorn, Schulter an Schulter für Eisern Union“). Stolz verweist der Klub darauf, dass beim Stadionumb­au zwischen 2008 und 2013 tausende Fans tatkräftig und zum Nulltarif halfen. Und ebenso stolz sind die Anhänger auf die Erfindung des gemeinsame­n Weihnachts­lieder-Singens im Stadion, das inzwischen vielfach kopiert wurde. Nirgends ist es so unverstell­t wie in Köpenick, wo seit 17 Jahren bärtige Kuttenträg­er derart ergriffen „Stille Nacht“grölen, dass es selbst den braven Bürgern die Tränen in die Augen treibt.

Und dann der Ort dieses Schauspiel­s (außerhalb der Corona-Zeit): das Stadion an der Alten Försterei. Das klingt nach großen Portionen Wildschwei­n-Gulasch, nach dichten Wäldern und Lodenmante­l – jedenfalls nach Folklore.

Das ist so gewollt wie das Ökound Studenteni­mage in Freiburg. Es sichert einen Platz für heimatlich­e Gefühle und für Vermarktun­g zugleich. Wiedererke­nnbar sind sie, die Köpenicker. In diesem Gefühl stellen sie ihre Wagenburg auf. Und es ist ihnen sicher recht, dass sie mit Zahlen die Rolle des Außenseite­rs im großen Geschäft unterstrei­chen können. Während im Bundesliga-Schnitt nach Berechnung des Internetpo­rtals „transferma­rkt.de“jeder Klub im Jahr (vor Corona) etwa 81 Millionen Euro für sein Personal ausgibt, begnügen sich die Eisernen mit 25,8 Millionen. Die Mannschaft wird auf einen Marktwert von 60 Millionen Euro geschätzt, Branchenfü­hrer Bayern München auf 893 Millionen. Und ins kuschelige Stadion an der Alten Försterei passen gerade mal 22.000 Zuschauer. Kein Vergleich zu den hochmodern­en, aber auch austauschb­aren Arenen der Konkurrenz.

In so einer Idylle lebt es sich sehr angenehm. Das bedeutet allerdings nicht, dass da jemand die Füße hochlegen will. „Wir sind noch nicht am Limit“, sagt der Schweizer Trainer Fischer, „wir können noch Fortschrit­te erzielen und müssen das auch. Wir haben noch Luft nach oben.“Es klingt wie eine Warnung.

 ?? FOTO: CARMEN JASPERSEN/DPA ?? Werder Bremens Yuya Osako (l.) bekommt im Dreikampf mit den Berlinern Robert Andrich (r.) und Grischa Prömel das intensive Spiel der Unioner zu spüren.
FOTO: CARMEN JASPERSEN/DPA Werder Bremens Yuya Osako (l.) bekommt im Dreikampf mit den Berlinern Robert Andrich (r.) und Grischa Prömel das intensive Spiel der Unioner zu spüren.

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