Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich
Der Mutation auf der Spur
Eine britische Studie belegt: Die neue Linie des Coronavirus ist ansteckender und verbreitet sich schneller. Experten bezeichnen sie nun offiziell als „besorgniserregende Variante“. Ein Update aus der Forschung.
Es war absehbar: Die mutierte Variante des Coronavirus hat nicht an den Grenzen Großbritanniens Halt gemacht. Längst ist die neue Viruslinie vom Südosten Englands auf dem Weg hinaus in die Welt. Und sie hat jetzt einen neuen Namen: Wissenschaftler der britischen Gesundheitsbehörde Public Health haben den Stamm B.1.1.7. umgetauft in „VOC“. Das steht für „Variant of Concern“– also besorgniserregende Variante. Mit neuen Daten gewann man auch neue Erkenntnisse. Die zeigen deutlich, dass es gute Gründe für weiterhin strikte Corona-Maßnahmen gibt.
Was ist das Besondere an der Mutante? B.1.1.7. oder VOC-202012/01 ist anders als seine Vorgänger. Die Linie vereint gleich mehrere genetische Veränderungen in ihrem Erbgut. Dazu gehören verschiedene Punktmutationen. Das bedeutet, an einigen Stellen im RNAStrang sind einzelne Bausteine (jeweils eine Nukleinbase) ausgetauscht oder ganz verschwunden. Dies ist keine Kleinigkeit, denn die Reihenfolge dieser Bausteine bestimmt, welche Aminosäure in das später gebildete Protein eingebaut wird. Ist der Basen-Code verändert, kann das Protein ein völlig anderes mit veränderten Eigenschaften sein. Zusätzlich sind bei der neuen Mutante drei Proteinbausteine komplett aus der Erbsubstanz verschwunden.
Welche Veränderungen sind besonders problematisch?
Wissenschaftler mehrerer britischer Forschungseinrichtungen haben sich genauer mit den genetischen Eigenschaften der VOC und ihren Folgen befasst. Die größten Sorgen bereiten ihnen zwei Mutationen mit den Abkürzungen N501Y und P681H. Denn sie verändern Struktur und Eigenschaft des Spike-Proteins. Das sind die stachelartigen Fortsätze, mit denen das Virus an die menschlichen Zellen bindet und dort eindringt. Es gilt mittlerweile als erwiesen, dass das Virus durch die Veränderung besser an den ACE2-Rezeptor binden und in die Zelle eindringen kann.
Was zeigen die neuen Daten?
Die VOC lässt sich in PCR-Tests sehr gut von den vorherigen Typen unterscheiden. Denn eine von drei nachzuweisenden Komponenten fällt dort negativ aus. Dies ist diejenige, die nach dem S-Gen für das Spike-Protein fahndet. Fehlt dieser Nachweis des S-Gens in der PCR, ist das ein klarer Marker für den mutierten Stamm. Durch diese genetische Auffälligkeit in der PCR können die Forscher die Verbreitung der Mutation sehr gut verfolgen. Ihre Daten zeigen einen eindeutigen Zusammenhang zwischen den stark zunehmenden Infektionszahlen in manchen Regionen Englands und dem vermehrten Auftreten der Mutation.
Welche Folge hat das für den R-Wert? Auch dies ist durch die Daten der britischen Forscher mittlerweile wissenschaftlich untermauert: Die veränderten Eigenschaften des Virus erhöhen den R-Wert in einem Bereich von 0,39 bis 0,7. Das bedeutet, in einzelnen Regionen kann der R-Wert durch die neue Mutation von 0,8 auf über 1 steigen. Ein Wert über 1 bedeutet längerfristig exponentielles Wachstum, also schnelle Ausbreitung und steigende Infektionszahlen. Der R-Wert gibt an, wie viele Menschen eine infizierte Person in einer bestimmten Zeiteinheit im Mittel ansteckt. Da der R-Wert eine exponentielle Größe ist, haben schon geringe Veränderungen große Auswirkungen.
Beeinflusst die Mutation den Krankheitsverlauf?
Dafür gibt es bisher keine Hinweise. Die erhöhte Ausbreitungsgeschwindigkeit hat bisher in keiner der betroffenen Regionen zu einer messbaren Zunahme schwerer Covid-19-Verläufe geführt.
Was ist mit Kindern?
Evidente Zahlen über eine erhöhte Ansteckungsgefahr bei Kindern gibt es bisher nicht. Aber: „Es gibt einen Hinweis darauf, dass das mutierte Coronavirus eine höhere Neigung hat, Kinder zu infizieren“, sagte Neil Ferguson, Epidemiologe am Imperial College London, gegenüber dem britischen Science Media Center. Ferguson ist an der britischen Studie beteiligt und Mitglied der Expertengruppe Nervtag, die die britische Regierung berät. Studienautor Axel Gandy wiederum liest aus den jüngsten Zahlen, dass die Infektiosität sich in allen Altersgruppen erhöht hat, nicht explizit bei Kindern. Die Wissenschaftler sind sich einig, dass es für eindeutige Aussagen mehr Daten braucht. Bisher galten vor allem jüngere Kinder als wenig empfänglich für Infektionen mit Sars-CoV-2.
Wirkt die Impfung?
Biontech-Chef Ugur Sahin ist überzeugt davon, dass sein Impfstoff auch gegen die neue Variante des Coronavirus wirkt. Die neue VOC-Linie sei noch immer zu 99 Prozent identisch mit der, für die die Impfung entwickelt wurde. Der Impfstoff werde nun auf seine Wirksamkeit gegen die neue Variante getestet. Falls nötig, könne er schnell angepasst werden, so der Biontech-Chef.
Was ist jetzt zu tun?
Die britischen Forscher haben eine weitere unerfreuliche Entdeckung gemacht: Sie wiesen nach, dass bei der neuen Virusvariante die bekannten AHA-Regeln – sie nennen dies „Non-pharmaceutical interventions“(NPIs) – nicht in dem Maße helfen wie bei dem unveränderten Virustyp. Während des November-Lockdowns in England sei der ursprüngliche Corona-Typ eingedämmt worden, die Mutation aber habe sich weiter durchgesetzt. Letztlich ist die Impfung die beste Waffe auch gegen die neue Virusform. Bis aber alle davon profitieren, dauert es. So lange muss weiterhin alles daran gesetzt werden, das Virus zumindest in Schach zu halten. Die neue Mutation muss auch in Deutschland durch Sequenzierung indentifizierbar werden. Maximale Kontaktreduzierung, konsequente AHA-Regeln, Testen, Nachverfolgung und Quarantäne – dies bleiben vorerst die wichtigsten Werkzeuge in der Pandemie.