Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich
Verzicht aus freiem Willen
Solidarität ist kein Selbstläufer. Jeder und jede Einzelne muss sich dafür entscheiden.
Nun gibt es wieder neue Regeln. Und mit jeder neuen Regel gibt es neue Lücken, Schlupflöcher, die der Einzelne nutzen kann, um doch Freunde zu treffen, einen Wochenendausflug zu starten, mal wieder ein bisschen zu leben wie früher. Dieser Impuls ist nur verständlich nach so vielen Wochen der Einschränkung und des Verzichts auf das Allermenschlichste: Begegnung, Bewegung, Freiheit.
Die aktuellen Infiziertenzahlen und der Blick nach England, wo die hoch ansteckende, neue Variante des Virus wütet, verlangt etwas anderes: den bewusst gefassten Entschluss, allen Zumutungen zum Trotz weiter solidarisch zu sein, das Leid der anderen nicht kleinzureden oder auszublenden, sondern an sich heranzulassen. Und sich aus eigenem Willen zu beschränken. Auch das ist Freiheit. Und ohne dieses Mittun jedes Einzelnen ist der Pandemie nicht beizukommen. Die Politik hat sich auf Appelle und Verbote verlegt. Auch auf Regeln, die nicht zu kontrollieren sind. Was das Land eigentlich braucht, ist eine Rückbesinnung darauf, was eine Gemeinschaft trägt. Was Zusammenhalt bedeutet. Es gibt nämlich keinen natürlichen Hang des Menschen zu Solidarität, keinen Automatismus, der durch Notlagen ausgelöst würde. „Solidarität ist eine Möglichkeit jedes Einzelnen“, schreibt der Soziologe Heinz Bude. Man könne sie verwerfen, sie nutzen, oder politisch oder wirtschaftlich ausschlachten. „Man kann sich ihr aber auch verpflichten, weil man dadurch sein eigenes Leben reicher und lebendiger macht.“Bude hat das vor Corona geschrieben. Schon vor der Pandemie lag in der Luft, dass eine Gesellschaft von Einzlingen möglich ist, aber nicht möglichst gut für möglichst viele Menschen. Egoismus lässt den Einzelnen innerlich verarmen, mag er auch äußerlich Reichtümer anhäufen. Für Gesellschaften gilt das gleiche.