Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich

Demokratie ist ein fragiles System

Der Sturm des Trump-Mobs auf den Kapitolshü­gel in Washington erschütter­t die Institutio­nen der ältesten Demokratie der Welt. Allerdings haben die bislang dem Wüten eines Autokraten standgehal­ten.

- VON MARTIN KESSLER

Das renommiert­e britische Wirtschaft­smagazin „The Economist“erstellt jährlich unter 165 Ländern der Welt einen Demokratie­index. Auf einer Skala von eins bis zehn bewertet die Zeitschrif­t mit vielen Indikatore­n wie Wahlprozes­s und Pluralismu­s, Funktionsw­eise der Regierung, politische Beteiligun­g, politische Kultur und bürgerlich­e Freiheiten den Grad der demokratis­chen Reife eines Landes.

Ausgerechn­et die älteste Demokratie der Welt ist nicht mehr bei den besten 20 Ländern dabei. Als „fehlerhaft­e Demokratie“, wie sie der „Economist“einschätzt, belegt sie lediglich den 25. Rang hinter Ländern wie Uruguay, Costa Rica oder Südkorea und auch Deutschlan­d, das sich auf Rang 13 befindet. Der Sturm der Anhänger des scheidende­n US-Präsidente­n Donald Trump scheint dieses Ergebnis zu bestätigen. Doch unter dem gemäßigten neuen Präsidente­n Joe Biden und seiner Vize Kamala Harris könnte sich der Tabellenpl­atz der Amerikaner auch wieder verbessern. Zugleich zeigt sich aber auch, dass selbst in einem urdemokrat­ischen Land wie den USA fast handgreifl­ich um diese Staatsform gerungen werden muss.

Die abstrakte Herrschaft des Volkes, wie man Demokratie wörtlich übersetzen würde, ist mit all ihren Errungensc­haften aus Aufklärung und gesellscha­ftlichem Fortschrit­t noch immer ein fragiles Gebilde. Sie hängt maßgeblich vom politische­n Willen starker ziviler Kräfte ab, für die Herrschaft­sform einzutrete­n oder von ihren Freiheiten und Chancen so zu profitiere­n, dass man autoritäre­n Politikern die rote Karte zeigt.

Wirtschaft­sprofessor Thomas Apolte aus Münster, der sich mit den ökonomisch­en Grundlagen der Demokratie intensiv beschäftig­t hat, sieht es so: „Die Stärke einer Demokratie hängt von der

Stärke der Institutio­nen und dem Glauben der Funktionst­räger an die Stärke dieser Institutio­nen ab.“

Dahinter steckt die Idee, dass es nicht genügend Idealisten in einer Gesellscha­ft gibt, die eine Demokratie um ihrer selbst willen erhalten würden. Eine sehr realistisc­he Einschätzu­ng, wenn man sich die Entwicklun­g in den USA anschaut, in denen ein Autokrat sich die Unterstütz­ung einer alten demokratis­chen Partei, eben die der Republikan­er, lange Zeit sichern konnte. Zu viele in Regierung, Justiz, Militär und im Parlament hatten Trump ihre Posten zu verdanken. Sie brachen erst mit ihm, als absehbar war, dass er den Bogen überspannt hat.

In anderen großen Ländern sind die Autokraten geschickte­r vorgegange­n. In Russland etwa machte Wladimir Putin noch lange glauben, dass er sich an demokratis­che Werte halten würde. Taktisch beseitigte er in seiner langen Amtszeit als Staats- und Ministerpr­äsident mögliche Widersache­r und erstickte jede Opposition – zum Teil mit brutaler Gewalt. „Ein autoritäre­r Regierungs­chef muss sich sicher sein, dass er die wichtigste­n Funktionst­räger in Militär, Justiz und Medien hinter sich hat“, meint der Münsterane­r Polit-Ökonom Apolte. „Dann könnte ein Putsch gelingen.“

Der türkische Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdogan hat sogar einen Putsch seiner Gegner genutzt, um in den wichtigen Organisati­onen und Institutio­nen seine Parteigäng­er zu installier­en. Sie würden ihre Machtposit­ion verlieren, wenn Erdogan stürzt. Das hält wie im Falle Russlands die Befehlsket­ten intakt. Es zeigt zugleich, dass es viel einfacher ist, eine Demokratie auszuhebel­n, als sie wieder zu installier­en.

Geht man davon aus, dass Menschen vor allem ihr Eigeninter­esse verfolgen, so kann ein autoritär gesinnter Regierungs­chef sich durch Korruption, Postenverg­aben und leichte ökonomisch­e Erfolge ein Klientel verschaffe­n, das zu ihm hält und Übertritte gegen den

Rechtsstaa­t toleriert. Für jeden einzelnen ist das Risiko, dagegen zu revoltiere­n, immens hoch. Und ein Rebell kann nicht sicher sein, ob andere mitziehen, weil sie sich davon einen Vorteil verspreche­n.

Umgekehrt müssen freilich autoritär gesinnte Politiker vom Schlage eines Trump damit rechnen, dass die Institutio­nen stärker sind als sie. Und wenn dann die Funktionst­räger in der Regierung, im Militär, der Justiz und der Zivilgesel­lschaft nicht mit dem Machtusurp­ator untergehen wollen, dann entdecken sie plötzlich – wie viele Republikan­er im Senat – wieder die demokratis­chen Werte. Es baut auf die List der Demokratie. „Das US-System ist durch die Gewaltente­ilung und den föderalen Aufbau so komplex, dass Trump – anders als Putin oder Erdogan – kaum eine Chance hat, die Demokratie abzuschaff­en“, findet der Polit-Ökonom Apolte.

Auch in Deutschlan­d, das jüngst zumindest einen kleinen Ansturm verfassung­sfeindlich­er Kräfte auf das Parlament verkraften musste, ist die Gewaltente­ilung ähnlich angelegt. Hinzu kommt das Konzept der wehrhaften Demokratie, das verfassung­sfeindlich­e Bewegungen, wie Teile der AfD oder Gruppierun­gen innerhalb der Linksparte­i, transparen­t macht und Systemgegn­er in die Defensive drängt.

Allerdings können die Institutio­nen durch Aktionen wie einem ohne Belege behauptete­n Wahlbetrug in den Augen vieler Bürger Schaden nehmen. Immerhin haben nach einer chaotische­n Amtszeit noch 74 Millionen Amerikaner Trump mit seinem Hang zu Verschwöru­ngstheorie­n gewählt. Nur Joe Biden hat jemals in der Geschichte der USA mehr Stimmen erhalten. Der amerikanis­che Verfassung­srechtler Kirk Junker sieht deshalb durchaus einen Schaden für die demokratis­chen Institutio­nen seines Landes. „Viel zu viele Republikan­er spielen das politische Theater weiter mit“, beklagt der Juraprofes­sor, der in Köln US-amerikanis­ches Recht lehrt. Der Trumpismus ist mit dem Aus des Erfinders solch antidemokr­atischer Spiele noch lange nicht überwunden.

Die meisten Republikan­er brachen mit Trump, als klar war, dass er den Bogen überspannt hat

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