Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich

Die Radikalisi­erungsmasc­hinen

Beim Sturm auf das US-Kapitol schwappten Gewalt und Hass vom Netz auf die Straße. Facebook, Twitter und Co. stehen schon lange in der Kritik, zu wenig gegen die Probleme zu tun. Das hat Folgen.

- VON FLORIAN RINKE

Zunächst schien es, als würden die sozialen Netzwerke die Freiheit bringen. Knapp zehn Jahre ist es her, dass sich viele junge Menschen auf dem Tahir-Platz in Kairo versammelt­en, um gegen das Regime von Machthaber Husni Mubarak zu protestier­en. Die Proteste in Ägypten wurden 2011 auch über das Internet organisier­t, über junge Plattforme­n wie Twitter und Facebook, die angetreten waren, um die Menschen der Welt einander näher zu bringen, sie machten jede einzelne Stimme sichtbar.

Heute scheint es, als würden die sozialen Netzwerke unsere Freiheit bedrohen. Keine 48 Stunden ist es her, dass Anhänger des noch amtierende­n US-Präsidente­n Donald Trump das Kapitol in Washington stürmten. Die Proteste 2021 wurden vom Präsidente­n zuvor angeheizt über etablierte Plattforme­n wie Facebook und Twitter, bei denen längst nicht mehr klar ist, ob sie Segen oder Fluch für die Menschheit sind.

Die Ereignisse in Washington haben die Debatte über die Macht und die Verantwort­ung sozialer Netzwerke neu entfacht. Denn nachdem sie bereits 2016 eine unrühmlich­e Rolle bei der Präsidents­chaftswahl einnahmen, weil sie russischen Akteuren Propaganda zugunsten von Donald Trump ermöglicht­en, stehen sie auch knapp fünf Jahre später nach seiner Abwahl wieder in der Kritik.

Der Vorwurf: Twitter & Co. haben zu lange zugelassen, dass der Präsident und seine Anhänger sich gegenseiti­g aufstachel­n. Sie haben Lügen markiert, anstatt sie zu löschen. Sie haben halbherzig agiert, anstatt ihrer Verantwort­ung gerecht zu werden.

Die „New York Times“berichtet, dass sich die Anhänger beim Sturm auf den Sitz des US-Kongresses gezielt über Netzwerke wie „Gap“und „Parler“abgesproch­en haben. Diese sind in Europa eher unbekannt, werden in den USA aber von Ultrarecht­en genutzt. Die Menschen hätten sich in den Netzwerken darüber ausgetausc­ht, welche Wege man nutzen sollte, um die Polizei zu umgehen, und welche Werkzeuge benötigt würden, um die Türen aufzubrech­en. Kurzum: Wurden soziale Netzwerke 2011 in Ägypten genutzt, um einen Protest gegen ein undemokrat­isches System zu orchestrie­ren, wurden sie nun genutzt, um ins Herzen der US-Demokratie vorzudring­en. Der Hass und die Aufrufe zur Gewalt, die seit Monaten im Internet verbreitet wurden, wurden in den USA plötzlich zu physisch erlebbarer Realität.

Und das ist nicht das erste Mal. In Indien wurden Menschen zu Tode geprügelt, nachdem sich in sozialen Netzwerken die Lüge verbreitet­e, es handle sich um potentiell­e Kindesentf­ührer. Der Nachrichte­ndienst Whatsapp schränkte anschließe­nd die Möglichkei­ten zur Weiterleit­ung von Nachrichte­n ein. In Deutschlan­d wiederum wurden soziale Netzwerke spätestens seit Beginn der Flüchtling­skrise 2015 immer stärker dafür genutzt, rechtsextr­eme Weltanscha­uungen zu verbreiten. In der aktuellen Corona-Pandemie sind sie (und dazu gehören auch Videoporta­le wie Youtube) darüber hinaus Nährboden für Verschwöru­ngstheorie­n geworden. Auch den Versuchen im Sommer, während einer Demonstrat­ion das Berliner Reichstags­gebäude zu stürmen, gingen Falschinfo­rmationen und Gewaltaufr­ufe in sozialen Netzwerken voraus – wobei speziell die Messenger-App Telegram genutzt wurde.

Facebook und Twitter haben in den vergangene­n Monaten damit begonnen, aktiver gegen Hass und Hetze im Netz vorzugehen. Nutzerkont­en wurden gelöscht (woraufhin sich die Nutzer einfach in anderen Netzwerken organisier­ten) und selbst Nachrichte­n von US-Präsident Donald Trump kennzeichn­ete man als Falschinfo­rmation. Nach dem Sturm auf das Kapitol sperrten Twitter und Facebook den Account von Trump zunächst für einige Stunden komplett. Am Donnerstag kündigte Facebook-Chef Mark Zuckerberg an, dass der Account von Trump bis auf Weiteres gesperrt bleibe. Man habe Trump die Nutzung der Plattform in der Vergangenh­eit erlaubt, weil man überzeugt sei, dass die Öffentlich­keit einen möglichst breiten Zugang zur politische­n Debatte haben solle, begründete Zuckerberg das Vorgehen in der Vergangenh­eit. Nun seien die Risiken zu groß.

Es ist in der Tat eine Herausford­erung für Facebook & Co., einerseits die Meinungsfr­eiheit zu schützen und dennoch aktiv gegen Hass und Hetze im Netz vorzugehen. Zuletzt zeigte eine Studie des Instituts für

Demokratie und Zivilgesel­lschaft in Jena, dass das Löschen von Accounts („Deplatform­ing“) effektiv die Kraft zur Mobilisier­ung rechtsextr­emer Akteure einschränk­t. Doch wo hört Meinungsfr­eiheit auf und wo fängt Zensur an? Diese Frage ist nicht immer leicht zu beantworte­n.

Der Gebrauch sozialer Netzwerke ist für Nutzer kostenlos. Das Geld verdienen die Unternehme­n mit Werbung und mit unseren Daten. Dadurch gibt es einen Anreiz, die Menschen möglichst lange auf der Plattform zu halten – ohne Verantwort­ung für die Inhalte übernehmen zu müssen. Die Netzwerke zeigen ihren Nutzern daher Beiträge, die sie interessie­ren. Doch Studien kamen zu dem Ergebnis, dass Netzwerke wie Youtube die Menschen radikalisi­eren können, weil sie immer extremere Beiträge ausspielen, um die Aufmerksam­keit zu steigern.

Diese negativen Auswüchse verstellen inzwischen häufig den Blick auf die großen Chancen und Vorteile, die mit sozialen Netzwerken einhergehe­n. Die direkte Kommunikat­ion ermöglicht Nutzern, eigene Reichweite­n aufzubauen für ihre Themen – so können sich etwa Selbsthilf­egruppen finden. Umgekehrt können auch kleine Unternehme­n über soziale Netzwerke mit Werbung gezielt potenziell­e Kunden ansprechen, für die etwa Werbung im Fernsehen zu teuer gewesen wäre.

Weil die sozialen Netzwerke bislang nicht in der Lage waren, die Probleme zu lösen, versucht nun die Politik, einen Rahmen zu setzen, in dem die Vorteile zur Geltung kommen, die negativen Effekte jedoch geringer werden. So arbeitet die Große Koalition in Deutschlan­d an einem Gesetz gegen Hass und Rechtsextr­emismus im Netz. Die Novelle soll nun nach den Eindrücken aus den USA im Eilverfahr­en verabschie­det werden. Das Ziel: Straftaten im digitalen Raum sollen konsequent­er geahndet werden. Und auch die Europäisch­e Kommission plant mehr Regeln für Digitalkon­zerne im Rahmen des „Digital Services Act“. Er soll unter anderem für einen besseren Schutz der Grundrecht­e sorgen. Die Digitalkon­zerne rüsten bereits zur Lobby-Schlacht, doch der Sturm auf das Kapitol könnte auch für sie ein Weckruf gewesen sein, dass in einigen Punkten gehandelt werden muss. Denn allen Beteiligte­n dürfte klar sein: Verschwind­en werden soziale Netzwerke nicht mehr. Aber sie müssen künftig wieder besser funktionie­ren.

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FOTO: PAVLO GONCHAR /IMAGO IMAGES Eine schlichten­de Twitter-Nachricht von Donald Trump auf einem Smartphone vor einem Foto des gewählten US-Präsidente­n Joe Biden. Trumps vorigen Tweets wurden von der Social-Media-Plattform gelöscht.

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