Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich
Die tröstende Kraft von Youtube
Manchmal kann es ganz guttun, in den Weiten des Internets zu versinken. Fünf Beispiele für Kanäle, mit denen man die Zeit vergisst.
Es beginnt meist harmlos mit einem Video – und endet mit der Erkenntnis, nun schon wieder den halben Tag im Internet verbracht zu haben. „Rabbit hole“-Effekt wird dieses Phänomen genannt, und es beschreibt, wie der Nutzer durch den Youtube-Algorithmus dazu gebracht wird, immer weitere Videos ander anzuschauen – bis er wie Alice im Wunderland vollständig im Kaninchenbau der Plattform versinkt. Manchmal ermöglicht der Algorithmus aber auch Entdeckungen, mit denen die im Internet verlorene Zeit plötzlich gar nicht mehr so verloren scheint. Fünf Beispiele für Kanäle, die eine tröstende Kraft entfalten können.
Principal45
Es ist immer das gleiche Ritual. Ein kurzes Ruckeln der Kamera, dann schwingt er sich erst mit dem rechten und dann mit dem linken Bein auf die Bank vor der hölzernen Orgel, rückt sich und seine Hände in Position und beginnt dann voller Konzentration zu spielen. Nicht Stücke von Bach, Liszt oder Mendelssohn, sondern von der Band Abba – die plötzlich klingt, als wäre ihre Musik für das Instrument geschaffen worden. Stephen Mann heißt der Organist, seine Lieder nimmt er laut Kanalinfo in der English Martyrs Church in Manchester auf. Er spielt „Mamma Mia“, „Lay All Your Love On Me” und „S.O.S” mit einer Leidenschaft und einem solchen Ausdruck, als würde es ihm die Welt bedeuten. Vielleicht tut es das, man würde es ihm ohne Weiteres glauben, denn das Schönste an diesen Videos, ist nicht das Spiel an sich, sondern das vom Glück beseelte Lächeln, das nach jedem Video folgt, wenn Mann sich zufrieden von der Orgelbank schwingt. Manchmal hallt der Ton noch nach – dann möchte man am liebsten gleich weiterhören und singen: „Try once more like you did before / Sing a new song, Chiquitita.”
www.youtube.com/ user/Principal45 OwlKitty
Sie verjagt in „Kevin – Allein zu Haus“die Einbrecher mit einem Sprung aus der Katzenklappe, sitzt in „Matrix“gegenüber von Morpheus im roten Ledersessel und frisst ihm die blauen und roten Pillen aus der Hand oder wirft sich in „Dirty Dancing“wie Baby in die Arme von Johnny. Die Rede ist von Lizzy – einer dreijährigen Katze aus Oregon, die aufgrund ihres birnenförmigen Körpers und ihrer gelb-grünen Augen auch „OwlKitty“(in etwa: Eulenkätzchen) genannt und von ihren Besitzern per Computer in alle möglichen Filmklassiker hineingeschnitten wird. Klingt nach Blödsinn? Ist es natürlich auch. Aber die Ernsthaftigkeit, mit der dieser Blödsinn betrieben wird, macht froh. Zu jedem der eine halbe bis zwei Minuten langen Videos gibt es ein kleines Making-of, das zeigt, wie der Filmemacher Tibo Charroppin und die Autorin Olivia Boone den Film in einem provisorischen Studio in ihrer Wohnung produziert haben. Und wie sie zum Beispiel vorgegangen sind, damit die Pfotenbewegung der Katze beim Tanz zu „You Never Can Tell“mit John Travolta in Pulp
Fiction perfekt scheint. Nach dem zehnten dieser Videos fragt man sich zwar vielleicht, wie um alles in der Welt man in diese ganze Sache hier hineingeraten konnte. Bereuen tut man diesen Schritt aber nicht.
www.youtube.com/ user/tiboayache Deutschland Was Geht
Man kennt diese Videos, in denen Comedians auf als bizarr geltende Veranstaltungen gehen und sich über die Menschen, die sich für ein bestimmtes Hobby interessieren, lustig machen. Auch das Video über die Brieftaubenmesse in Dortmund hätte ein solches werden können. Es gibt silberne Pokale in Taubenform, ein Züchter, der alle seine Brieftauben „Hans“nennt und T-Shirts mit Sprüchen wie „Taubensport ist klasse“oder „Papis Beste“zum Verkauf. Die Comedians Hazel Brugger und Thomas Spitzer könnten über all diese Dinge spotten. Aber sie tun es nicht. Und genau dadurch entsteht die sympathische und dokumentarische Komik des Videos, das eines der ersten der 2019 gedrehten Reihe „Deutschland Was Geht“ist. Jede Woche konnte man mit den Comedians in Form eines Ausflugs in 52 Videos durch Deutschland reisen, ohne dafür auch nur einmal das Haus verlassen zu müssen. Es gab Lach-Yoga in Neuss, einen BobRoss-Malkurs in Schifferstadt und einen Ausflug in die Augsburger Puppenkiste. Das Merkmal, das sich durch alle Videos zieht: Die Situation wird nie ernst genommen, die Interviewten aber schon. Weil Menschen, die über Dinge sprechen, die sie lieben, eben in den meisten Fällen überhaupt nicht zu verspotten sind, sondern einfach nur eines: liebenswert. Und sie in den kurzen Videos an ihrem Arbeitsplatz oder in ihrer Freizeit zu erleben, ist zumindest ein kleiner Trost für all die
Ausflüge und Erfahrungen, die man 2020 selbst nicht machen konnte.
www.youtube.com/c/ HazelThomas/playlists Choir! Choir! Choir!
Gemeinsam singen: Das ist eine dieser vielen schönen Sachen, die man aktuell nicht erleben kann. Allein singen: Das zumindest geht immer. Schaut man sich dabei eines der Videos von „Choir! Choir! Choir!” an, singt man plötzlich auch nicht mehr ganz so allein. Und hat für die entscheidenden – weil besonders dramatischen – Stellen (zum Beispiel „Every now and then I fall apart“in „Total Eclipse of the Heart“von Bonnie Tyler) sogar einen ganzen Background-Chor mit dabei. Die Kanadier Daveed Goldman und Nobu Adilman gründeten das Chorprojekt 2011. Wer mitmachen wollte, musste (zumindest vor der Pandemie) nur zu einem der wöchentlichen Treffen kommen und fünf Dollar für den Eintritt bezahlen. Das Ergebnis der Probe wurde dann zum Abschluss des Abends als Youtube-Video aufgezeichnet. Es gibt Versionen von „God Only Knows“von den Beach Boys, „Landslide“von Fleetwod Mac und „Love“von Lana Del Rey. Und die klingen so toll, dass auch schon Patti Smith ihr Lied „People Have The Power“unbedingt gemeinsam mit dem Chor in New York aufnehmen wollte. Wer sich die Videos anschaut, bekommt viele strahlende Augen zu sehen und wieder einen Glauben an das Gute im Menschen. Hört sich übertrieben an? Vielleicht. Aber eben nur, solange man noch nicht in all diese glücklichen Gesichter geschaut hat.
www.youtube.com/user/CHOIRx3 Josh Cohen
Zeit hat auf diesem Kanal längst keine Bedeutung mehr. Der australische Pianist Josh Cohen jedenfalls beginnt die meisten seiner Cover-Versionen mit einer scheinbar endlosen Einführung ins Stück. So entwickeln sich viele seiner Lieder auf subtile Weise aus sich selbst heraus, bis nach einigen Minuten die ersten bekannten Töne gespielt werden und die Melodie sich entfaltet. Was Cohen spielt, sind Cover, aber man könnte seine Interpretationen eher als liebevolle musikalische Besprechungen der Stücke begreifen. Das Spiel auf dem Flügel gibt den Originalen eine Klarheit, die das Bekannte trotz improvisatorischer Ausflüge aufs Wesentliche reduziert. Es gibt Versionen von „Space Oddity“oder „Life on Mars?“von David Bowie und auch eine Version des Songs „Svefn-g-englar“der isländischen Band Sigur Rós – die meisten der Videos sind aber Radiohead-Interpretationen. Die von Josh Cohen dazu herausgegebenen Klaviernoten wurden von der Band selbst freigegeben, lassen den typisch unruhig-melancholischen Sound der Engländer aber irgendwie etwas tröstlicher klingen als sonst. Also: Hinlegen, Augen schließen und zuhören. Und falls die etwa fünf bis zehn Minuten langen Lieder nicht reichen: Keine Sorge. Es gibt auch ein Cover von „Paranoid Android“. Und das ist 16 Minuten lang.
www.youtube.com/channel/ UC5kPwwKXVuF49grCSzBUR7Q