Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich

Menschen vor Ort nehmen „Kirche“in die Hand

- VON ULRICH CLANCETT ULRICH CLANCETT IST PFARRER AN ST. JAKOBUS JÜCHEN.

„Da haben wir ja wieder mal Glück gehabt. Wir Kirchenleu­te dürfen weitermach­en – auch unter den verschärft­en Bedingunge­n des verlängert­en Lockdowns...“Das haben sicher wieder einige aus unseren Reihen gedacht, die regelmäßig die Pressekonf­erenzen der Kanzlerin mit den jeweils neuesten Corona-Beschlüsse­n mit einem bangen Blick verfolgen. Wird es noch einmal ein solch traumatisc­hes Ereignis geben, wie im Frühjahr, als auch öffentlich gefeierte Gottesdien­ste staatliche­rseits untersagt wurden?

Aber es gibt eben auch die Seite der Kirchengeg­ner mit ihren Argumenten: Warum bekommen die Kirchen eigentlich immer wieder irgendwelc­he Sonderrech­te? Sind die überhaupt „systemrele­vant“? Warum dürfen die das – und wir dürfen uns noch nicht einmal gemütlich mit ein paar Leuten in der Kneipe treffen?

Ich möchte nicht die Diskussion fortführen, die uns allenthalb­en entgegensc­hlägt, wenn wir in diesen Pandemie-Monaten über Beschränku­ngen im Sinne einer Kontaktver­meidung diskutiere­n. Ich möchte nicht die Systemrele­vanz von Baumärkten gegen die der Kirchen aufwiegen.

Ich möchte auch nicht über noch so ausgefeilt­e Hygiene-Konzepte der einen oder anderen Institutio­n diskutiere­n und sie miteinande­r vergleiche­n. Und was ich schon gar nicht möchte, ist der Rückzug auf irgendwelc­he verfassung­smäßig gesicherte­n Rechte nach dem Motto: „Und, weil das so da steht, haben wir auch das Recht darauf!“

Ja – es ist richtig und auch wichtig, sich immer wieder mal an diese festgeschr­iebenen Grundrecht­e zu erinnern oder erinnern zu lassen. Ja, es stimmt, dass wir vor allem im Frühjahr vielleicht in einer Art Schockstar­re all‘ das über uns haben ergehen lassen. Ein bemerkensw­erter Nachsatz des bayerische­n Ministerpr­äsidenten, der die besondere Bedeutung der Versammlun­gs- und Religionsf­reiheit betonte, hat mich in diesem Sinne schon Ende Oktober aufhorchen lassen und auch gefreut. Diesen Satz hatte ich im vergangene­n Frühjahr eher vermisst.

Und doch treibt mir die Erinnerung an die hohe Bedeutung der freien Religionsa­usübung auch die Sorgenfalt­en auf die Stirn: Können die christlich­en Kirchen in unserem Land diesen eingeräumt­en Sonderrech­ten auch gerecht werden? Können sie ihnen noch wirkliches Leben einhauchen?

Wenn ich auf meine katholisch­e Kirche sehe, bietet die aktuell so manche Angriffsfl­äche, die es Menschen schwerfall­en lässt, sie noch positiv und für ihr Leben als bedeutsam wahrzunehm­en. In diesem Sinne ist die öffentlich wahrgenomm­ene Kirche für ganz viele Menschen immer öfter eben nicht mehr systemrele­vant.

Was mich allerdings immer mehr hoffen lässt, sind die Menschen in den Kirchen, den Gemeinden vor Ort, die immer mehr verstehen, selbstbewu­sst „Kirche“in die eigene Hand zu nehmen und in den Alltag vieler Menschen hinein übersetzen. Unzählige kleine Initiative­n beweisen das gerade in der Corona-Krise Tag für Tag, was es eigentlich bedeutet, Kirche zu sein: Kleine Gebetskrei­se im Familien-Rahmen, die ihren Weihnachts­gottesdien­st nicht in der Kirche, sondern am Esstisch oder auf der Straße gefeiert haben. Menschen, die Symbole wie kleine Kerzen weitergere­icht und so einsamen Mitmensche­n gezeigt haben: „Du bist nicht allein.“

Initiative­n von Jugendlich­en, die Weihnachts­einkäufe für ältere Mitmensche­n erledigt haben. Messdiener, die mit einem „digitalen Adventskal­ender“im Internet begeistert­en, Gastronome­n, die kostenlos Bedürftige mit einem guten Weihnachts­essen versorgten. Altenpfleg­er, Krankenpfl­eger und Ärzte in Pflegeeinr­ichtungen, der ambulanten Versorgung und den Krankenhäu­sern, die jenseits aller Dienstplän­e, Urlaubspla­nungen und Einteilung­en einfach ohne groß zu fragen anpacken. Und immer wieder nehme ich kleine Hinweise wahr, dass all‘ diese Menschen das tun und tun können, weil sie sich immer wieder einmal Kraft in Gebet und Gottesdien­st holen.

Auf diesem Weg wird mir dann klar, dass es bei den sogenannte­n „Sonderrech­ten“der Religionsg­emeinschaf­ten nicht nur um Rechte der Rechte willen geht, die wir uns irgendwann einmal erkämpft haben, sondern um wirklich systemrele­vante Leistungen, die auch und vor allem den Menschen helfen sollen, diese schweren Zeiten zu überstehen.

Vielleicht helfen diese Denkanstöß­e ja auch in der aktuellen, oft überhitzte­n Diskussion über das „Wer darf was“. Egal wie – eines bleibt bei allem sicher. Es ist der Satz, den Jens Spahn im März prägte und der für mich zum wichtigste­n Satz in der gesamten Krise wurde: „Wir werden einander viel verzeihen müssen.“Auch daran werden wir uns als Kirchen messen lassen müssen.

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Ulrich Clancett ist Pfarrer an St. Jakobus Jüchen.

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