Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich
Erfolgsstory mit Hindernissen
Die Geschichte des Impfens war nicht immer glanzvoll. Nebenwirkungen und sogar Todesfälle ließen sich nie ausschließen. Doch aus den meisten Fehlern hat die Wissenschaft gelernt.
Wissenschaft ist eine atmende Disziplin. Sie bewegt sich, verändert sich, irrt sich, korrigiert sich. Sie strebt nach Erkenntnis und lässt Fehler zu. Irrtümer sind ein Baustein im dialektischen Vorgang der Optimierung. Ohne Fehler kein Fortschritt.
Die Geschichte des Impfens ist ein Musterbeispiel für diese Schleife aus Versuch und Irrtum. Jedes Ansinnen, eine tückische Infektionskrankheit sozusagen mit ihren eigenen Waffen zu schlagen, stieß immer wieder auf unerwartete Probleme, Forscher verzweifelten an ihnen, nahmen sie billigend in Kauf – oder überwanden sie. Noch heute rätseln sie, wie sie gegen das HI-Virus impfen können. Zwar hat die gängige antiretrovirale Therapie dem Gespenst Aids den Schrecken genommen, trotzdem kann nur ein zuverlässiger Impfstoff die Pandemie beenden. Derzeit wird ein „Mosaik-Impfstoff“, der Ausschnitte etlicher HIV-Varianten enthält, in einer Phase-III-Studie getestet.
Keine Geschichte des Impfens kommt an Edward Jenner (1749 bis 1823) vorbei. Er gilt als der Erfinder der Pockenimpfung. Dabei war der englische Landarzt nur der Vollstrecker vieler Vorgänger-Versuche. Skrupel hatte er wenig, Medizinethiker würden ihn heutzutage vom Hof jagen.
Es war im Mai 1796, da zitierte Jenner mehrere Untergebene zu sich, bei denen kein Widerspruch zu erwarten war. Zuerst entnahm er einer Pustel seiner an Kuhpocken erkrankten Magd Sekret und impfte damit den achtjährigen Sohn seines Gärtners, indem er das Sekret auf die Haut des Jungen strich; sie hatte er zuvor mit zwei leichten Einschnitten angeritzt.
Danach schrieb Jenner: „Am siebten Tag klagte James Phipps über Unbehaglichkeiten in der Achsel, am neunten Tag wurde ihm kalt, verlor er seinen Appetit und hatte Kopfschmerzen. Während des ganzen Tages war er unpässlich und verbrachte die Nacht ruhelos; doch am folgenden Tag ging es ihm hervorragend.“Sechs Wochen später infizierte Jenner die Haut des kleinen James mit Material aus einer echten Pockenpustel (Kuhpocken waren eine deutlich harmlosere Variante), und wie zu beweisen war: Das Kind erkrankte nicht.
Mit Berichten über Selbst- und Fremdversuche jenseits einer geregelten Prüfpraxis ist die Geschichte des Impfens prall gefüllt. Jenner selbst erlebte es, dass ein kleiner Teil seiner Probanden trotzdem schwere Verläufe entwickelte oder sogar starb. Ohne Impfung wären es allerdings deutlich mehr Tote gewesen. Immerhin gilt er als einer der Gründerväter des Impfens, dabei hat er sich selbst nie zur Galionsfigur erhoben; schon vor ihm hätten Ärzte Feldversuche betrieben, sagte er stets, auf deren Erkenntnissen er aufgebaut habe. Tatsächlich hatte es in China schon um das Jahr 1000 Impfversuche gegen die Pocken gegeben, die allerdings nur in lokaler Tradition fortbestanden. Verlässliche Daten von vor
1000 Jahren? Fehlanzeige.
Immerhin brachte Jenner den Fachbegriff fürs Impfen in die Welt, nämlich Vakzination (Vaccination), bei dem als sprachliche Leihmutter die Kuh (lateinisch = vacca) dient. Inzwischen ist indes bekannt, dass das davon abgeleitete Vacciniavirus näher mit den Pferdepocken als mit den Kuhpocken verwandt ist. Manche sprechen heute jedenfalls von einem Vakzin oder von einer Vakzine, wenn sie einen Impfstoff meinen.
Der Grundgedanke hat sich in den Jahrhunderten der Impfung nicht geändert: Der Körper wird trickreich angeregt, sein Immunsystem gegen einen möglichen Erreger zu schärfen. Diese Stimulation wird auf verschiedenen Wegen erreicht: mit einem abgeschwächten, einem abgetöteten oder einem fingierten Erreger – oder mit einer Täuschung per komplementärem Rezeptor, der einen Erreger blockiert. Man kann (Donald Trump hat es erlebt) auch passiv impfen, indem man dem Körper Immunserum mit Antikörpern von bereits Genesenen spritzt.
Eingeführt wurde diese Methode im Jahr 1890 von Emil von Behring, als er eine Therapie gegen Diphtherie entwickelte, bei der er aus Pferdeblut isolierte Antikörper verwendete. Heutzutage ist die passive Immunisierung mit spezifischen Immunglobulinen eine Art Notfallmaßnahme, etwa nach einer Nadelstichverletzung im medizinischen Umgang mit einem Menschen, der mit Hepatitis B infiziert ist.
Trotzdem war Impfen immer mit Verwerfungen verbunden. Tuberkulose ist solch ein Fall, er umfasst schreckliche Kapitel. In der Zeit des Nationalsozialismus unternahmen Ärzte Experimente an missgebildeten, „nicht mehr wertvollen Kindern“(wie sie argumentierten), die später ungesühnt blieben. Dagegen ist die zeitweise standardisierte BCG-Tuberkulose-Impfung hierzulande seit 1998 nicht mehr empfohlen, auch wegen ihrer Nebenwirkungen. Wer nun heutzutage aus Deutschland in ein Tuberkulose-Risikogebiet reisen muss, hat ein Problem. Die Impfung ist schwer zu bekommen, und für einen Impfschaden haftet niemand mehr. Wie wichtig der globale Schutz wäre, zeigen die Zahlen: Weltweit leiden knapp zwei Milliarden Menschen an Tuberkulose. Jedes Jahr gehen schätzungsweise 1,7 Millionen Todesfälle auf ihr Konto, bei jährlich mehr als neun Millionen Neuinfektionen. Besonders hohe Infektionsraten gibt es in Afrika und Südostasien, oft im Schlepptau einer HIV-Epidemie.
Ein schwieriges Unterfangen ist ein Impfstoff gegen die ebenfalls sexuell übertragbaren Chlamydien. Bisherige Versuche haben nicht genügend Antikörper für eine langanhaltende Immunität produziert. In einem neuen Forschungsansatz gelang es, ein zentrales Protein der äußeren Membran auf der Oberfläche des Bakteriums zu isolieren; im Tierversuch rief es eine starke Antikörperantwort hervor. Allerdings fehlt für die Pharmaindustrie der finanzielle Anreiz, das Vorhaben vehement voranzutreiben, denn der mögliche Impfstoff basiert auf einem gentechnisch hergestellten Protein, nicht auf einer abgeschwächten Lebendversion des Bakteriums, was die Herstellung enorm verteuert. Tatsächlich gleichen die Anstrengungen, gegen manche Krankheiten einen Impfstoff zu entwickeln, einer Sisyphosarbeit. Malaria oder Borreliose sind Dauerbrenner in der Reihe bislang erfolgloser Versuche.
Auf der anderen Seite stehen epochale Gewinne, etwa beim Erfolgsmodell der Polio-Impfung. Doch der bis heute andauernde Impferfolg gegen Kinderlähmung wurde in den USA durch eine Krise in den 50er-Jahren erkauft; durch Produktionsmängel gelangten nicht inaktivierte Polioviren in den Impfstoff und kontaminierten ihn, es kam zu vergleichsweise vielen Lähmungen bei Kindern und fünf Todesfällen.
Durch konsequente Optimierung und Verbesserung etwa der Produktionsketten dürfen Impfstoffe mittlerweile als viel sicherer gelten. Dass es gleich mehrere Impfstoffe gegen Ebola gibt, ist ein Segen, nicht nur für Afrika. Und dann noch die großen Leistungen im Bereich des weitreichenden therapeutischen Impfens: Der Impfstoff gegen das Humane Papillomavirus (HPV ) schützt vor Gebärmutterhalskrebs, eine Hepatitis-B-Impfung vor Leberkrebs.
Doch Krisen gibt es weiterhin: Schwer ins Kontor schlug eine Nebenwirkung im Jahr 2009, als der Grippeimpfstoff Pandemrix auf den Markt kam. Die Angst vor einer schweren Pandemie durch das damals neue Influenzavirus A/H1N1 (Schweinegrippe) hatte viele Länder zu verstärkten Impfbemühungen animiert. Die skandinavischen Behörden kauften den Impfstoff. Im August 2010 häuften sich bei geimpften Kindern und Jugendlichen Fälle von Narkolepsie, einer seltenen Schlaf-Wach-Störung, die durch Tagesschläfrigkeit und plötzlichen Verlust der Muskelspannung durch Emotionen wie Freude oder Erregung gekennzeichnet ist. Bis Januar 2015 wurden weltweit mehr als 1300 Fälle bekannt, darunter einige aus Deutschland. Mittlerweile wurde die Ursache gefunden, das Pandemrix-Problem wird sich nicht wiederholen. Lernen durch Irren. Das Medikament ist längst vom Markt.
Die Nebenwirkungen sind das eine, die teilweise niedrigen Effekte das andere. Lange wurden die meisten Impfstoffe so entwickelt, dass sie möglichst auf alle Alters- und Bevölkerungsgruppen passen. Das Problem dabei lässt sich exemplarisch an der Grippeschutzimpfung zeigen: Während die Impfung normalerweise etwa 30 bis 60 Prozent der Erwachsenen mittleren Alters schützt, sinkt die Rate bei über 65-Jährigen auf 20 bis 50 Prozent. Andererseits ist Influenza für Senioren besonders gefährlich. Dass die Impfung sie nicht so gut schützt, ist einer der Gründe, weshalb sie sich unter Älteren bislang nicht so gut durchgesetzt hat. Und wenn dann einer geimpft wird und trotzdem erkrankt, setzt er das Gerücht in die Welt, die Impfung sei schuld. Nein, war sie nicht. Sie hat nur nicht gewirkt.
Die Pocken waren sozusagen das erste breite Experimentierfeld für Impfungen, viele folgten. Alle erlebten Phasen von Pioniergeist und Selbstzweifel. Impfkritiker und -gegner waren schon zu Jenners Zeiten bestrebt, ein Klima grundsätzlichen Misstrauens zu schüren. Bis heute haben sich ihre Argumente nicht verändert: Es bringt ja alles nichts! Die Natur regelt das schon von selbst! Es geht doch sowieso nur ums Geld! Diese Gesinnung ist weder hilfreich noch stichhaltig, wie man bei sehr vielen Infektionskrankheiten sieht, die seit Jahren durch eine Impfung entwaffnet werden oder gar als ausgerottet gelten.
Und nun, bei Corona? Sollen wir abwarten, dürfen wir Bedenken tragen? Blühen uns Nebenwirkungen, die in den Phase-III-Studien (noch) nicht gefunden wurden? Die Forschung sagt uns: Sie sind sehr unwahrscheinlich. Jedenfalls befinden wir uns in einer geradezu bestürzenden pandemischen Situation, die uns nicht über Jahre an die Substanz gehen darf. Sollten wir da nicht Mut investieren?
Ja, das sollten wir. Abwarten ist keine Lösung. Es würde Jahre dauern, bis man ohne Impfung in Deutschland eine Herdenimmunität erreicht hätte, doch auf Kosten von Millionen Menschenleben. Vektor- und mRNAImpfstoffe dürfen als sicher gelten. Die strenge Methodik ihrer behördlichen Zulassung verdient unser Vertrauen; genährt wird es durch Prüfverfahren, die noch nie so öffentlich und so transparent waren wie jetzt. Anders als zu Edward Jenners Zeiten.