Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich
Gegen Zynismus in der Sprache
Mit „Rückführungspatenschaften“und „Corona-Diktatur“hat die Unwort-Jury erstmals zwei Begriffe als kritikwürdig herausgehoben.
DÜSSELDORF Debatten werden zynischer – nicht nur in Fragen der Pandemie. Darauf hat die Jury des „Unwortes des Jahres“indirekt hingewiesen, indem sie für 2020 zwei Begriffe zu Unwörtern erklärt hat: „Rückführungspatenschaften“und „Corona-Diktatur“.
Die Bezeichnung „Rückführungspatenschaften“ist im politischen Raum entstanden und beschreibt den hilflosen Versuch der EU, Mitgliedsstaaten wie Ungarn für einen Minimalkonsens in der Migrationspolitik zu gewinnen. Länder, die sich nicht an der Aufnahme von Flüchtlingen beteiligen wollen, sollten verpflichtet werden, die Abschiebung abgelehnter Asylbewerber zu übernehmen. Diesen Vorgang mit dem fürsorglichen, ursprünglich christlichen Begriff der Patenschaft zu verquicken, ist der Versuch, etwas, das mit dem Ende aller Hoffnungen für die Betroffenen zu tun hat, sprachlich zu verkleiden. Unwillige und unsolidarische EU-Staaten zu Patenonkeln zu erklären, erfüllt ein zentrales Negativ-Kriterium bei der Unwort-Wahl: Beschönigung. Die Jury aus vier Sprachwissenschaftlern und -wissenschaftlerinnen, einem Journalisten und einem Gast, sucht nicht nur diskriminierende und die Menschenwürde angreifende Begriffe, sondern auch euphemistische, verschleiernde oder irreführende Formulierungen.
Es ist kein Zufall, dass sie einmal mehr im Bereich der Migrationspolitik fündig geworden ist. Vor zwei Jahren hatte es bereits die „Anti-Abschiebe-Industrie“zum Unwort gebracht. Beschönigungen und Zynismus halten immer dann Einzug in die Sprache, wenn Akteure aus Angst oder Opportunismus ihr Handeln nicht mehr klar benennen wollen. Wenn Interessen so stark werden, dass sie sogar die Sprache verbiegen. Und wenn sich Debatten so erhitzt haben, dass der politische Apparat seine Begriffe vorauseilend beschönigt, um die ablehnenden Reflexe etwa von rechtspopulistischer Seite zu umgehen.
Die „Corona-Diktatur“ist dagegen ein Propagandabegriff. Er fasst ins Wort, dass eine Gruppe von Menschen die Pandemieverordnungen der Regierung nicht nur als Zumutung empfindet, sondern wegen ihres Erlasscharakters sogar als diktatorisch. Natürlich lässt das außen vor, dass Verordnungen – auch die zur Coronavirus-Pandemie – in einer Demokratie aufgrund der Gewaltenteilung infrage gestellt und auch gekippt werden können. Die Gerichte in Deutschland haben ja auch in vielen Fällen anders entschieden als die Exekutive, und Verordnungen wieder kassiert.
Anders sieht das in Ländern wie China aus, wo Maßnahmen ohne Debatte verhängt und durchgezogen werden. Und kritische Blogger, die über die Zustände berichten, ins Gefängnis kommen. Doch diese Unterschiede wollen Menschen nicht wahrhaben, die in Deutschland von einer Diktatur schwadronieren, um ihrer teils berechtigten Kritik an den verordneten Regeln Aufmerksamkeit zu verschaffen.
Der Ausdruck mache es schwieriger, berechtigte Zweifel an einzelnen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie offen und konstruktiv zu diskutieren, schreibt die Unwort-Jury, und er verhöhne Menschen, die tatsächlich in Diktaturen leben und für ihren Freiheitskampf gefoltert werden.
Natürlich nützt der Begriff auch jenen, denen es bei den Kundgebungen gegen Corona ohnehin nicht wirklich um die Härten der Pandemieerlasse geht, sondern darum, Grenzen des Sagbaren zu verschieben und die Regierung zu verunglimpfen. Welche Wirkung solche Kampfbegriffe entfalten können, hat sich in den USA gezeigt. Auch in Deutschland verändern sie das Klima.
So fühlte sich die Unwort-Jury in ihrer Mitteilung zur Wahl auch dazu genötigt, zu erklären, dass ihre Arbeit keine Zensur sei, sondern der Anregung von Diskussionen „über den öffentlichen Sprachgebrauch und seine Folgen für das gesellschaftliche Zusammenleben“dienen soll. In der Tat erregt die Wahl des Unwortes immer mehr öffentliche Aufmerksamkeit. Sprachkritik gewinnt an Bedeutung – und an Brisanz.
Damit rückt auch in den Blick, wer eigentlich über die Auswahl kritikwürdiger Begriffe befindet. Die Unwort-Jury ist institutionell unabhängig und arbeitet ehrenamtlich, aber natürlich ist sie kein gewähltes Gremium. Ihre Entscheidungen sind aber auch kein Urteilsspruch, sondern Anlass für Diskussionen über Sprache.
„Absonderung“, „Systemling“, „Wirrologen“oder „Grippchen“, gehörten zu den 1826 Einsendungen von Bürgern, die sich in diesem Jahr an der Kür beteiligt haben. Am häufigsten seien aber „systemrelevant“(180) und „Querdenker“(116) zum fast alles beherrschenden Thema des Jahres 2020 vorgeschlagen worden. Aber auch im Zusammenhang mit Migration gab es mit „Ankerkinder“oder „Migrationsabwehr“weitere Unwort-Kandidaten.
„Der Konsens darüber, wo die Grenzen des Sagbaren liegen, ist heute so brüchig wie nie in den vergangenen Jahrzehnten“, schreibt die Jury in ihrem Jubiläumsjahr. Es war die 30. Wahl eines Unworts. Nötig sind solche Aktionen mehr denn je.