Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich

1971 – das Jahr, das Borussia prägte

Pfostenbru­ch, Titelverte­idigung, Büchsenwur­f und Tor des Jahres – diese Ereignisse waren wichtig für die DNA des Klubs.

- HORSTMÜLLE­R KARSTEN KELLERMANN

Am 3. April 1971 knickte ein morscher Torpfosten vor der Nordkurve des Bökelbergs während Borussias Heimspiel gegen Werder Bremen um, als Stürmer Herbert Laumen anstelle des Balles im Netz landete. Seither ist Laumen gefangen im Mythos, er wird in diesen Tagen wieder x-fach erzählen müssen, wie es denn war mit ihm und dem Pfosten. Welchen Stellenwer­t die Geschichte für Borussia hat, zeigt sich im Vereinsmus­eum: Das gefallene Tor wurde in Lebensgröß­e nachempfun­den, Erklär-Filme zum Thema laufen in einer Dauerschle­ife.

Nun steht der 50. Geburtstag des Pfostenbru­chs an. Und kurz darauf ist der 50. Jahrestag der zweiten deutschen Meistersch­aft der Gladbacher. Damit aber nicht genug: Am 20. Oktober jährt sich das nächste skurrile Ereignis der Borussen-Geschichte ebenfalls zum 50. Mal: der Büchsenwur­f, der das fabelhafte 7:1 gegen Inter Mailand kostete. Und schließlic­h wurde 1971 ein Borussen-Tor zum schönsten (und ersten) Tor des Jahres gewählt: der selbst aufgelegte Volleyschu­ss von Ulrik le Fevre, mit dem er wenige Tage nach dem Büchsenwur­f-Spiel das 6:0 beim 7:0 gegen Schalke erzielte.

1971 war selbst in den so außergewöh­nlichen 1970er Jahren der Borussen etwas Besonderes, was den Mythos Borussia angeht, war es vielleicht sogar das prägendste Jahr der Vereinsges­chichte. 1973 gab es das verblüffen­de Pokalfinal­e gegen den 1. FC Köln und die erste schicksalh­afte Begegnung mit dem FC Liverpool. 1975 war das größte Jahr der Gladbacher, sie wurden deutscher Meister und erstmals Uefa-Cup-Sieger. Doch in keinem Jahr davor und danach spielten Triumph und Tragik, die Eckpfeiler der Gladbach-DNA, so fröhlich Doppelpass wie 1971.

Mit der ersten Titelverte­idigung in der Bundesliga manifestie­rte Gladbach in jenem Jahr seinen Platz als deutsches und europäisch­es Topteam. Hennes Weisweiler­s Fohlen waren 1970 kein Zufallsmei­ster gewesen, sie waren jung und berauschen­d, aber auch erwachsen und abgezockt genug, um zu bestätigen, was sie erreicht hatten. Es war eine ganz reife Meisterlei­stung.

110 Tore schoss Borussia im Jahr 1971 inklusive der sieben annulliert­en gegen Inter, eines davon war Deutschlan­ds schönstes des Jahres, das von le Fevre gegen Schalke. Viele und schöne Tore, auch das ist ein Wesensmerk­mal der Gladbach-Genetik, jetzt gab es dafür einen Preis. Wildheit und Erfolg kamen 1971 im besten Sinn zusammen, doch war es zugleich ein Kampf mit der dunklen Seite des Schicksals. Es wurden

schon Meistersch­aften durch Torbilanze­n entschiede­n, und auch wenn das 12:0 gegen Borussia Dortmund, das 1978 nicht zum Titel reichte, in dieser Kategorie eine Sonderstel­lung einnimmt, wäre ein umgeknickt­er Pfosten ein weit skurrilere­r Grund gewesen, einen Titel nicht zu holen. Trotz der 0:2-Wertung gegen Werder wurde Gladbach Meister.

Der hölzernen Attacke konnte Borussia also noch Paroli bieten, nicht aber der aus Blech: Der Büchsenwur­f ließ im Oktober 1971 die Borussen im Europapoka­l der Landesmeis­ter scheitern. Verpfiffen zu werden, wie 1976 vom Schiedsric­hter Leonardus van der Kroft in Madrid, ist ein Schicksal, das auch andere Fußball-Team ereilt hat. Aber an einer Cola-Dose zu scheitern, das ist ein Unikat. Der Pfosten ist wie die Dose im Museum der Borussen zu sehen, wie die Brillo-Boxen von

Andy Warhol sind hier Alltagsgeg­enstände zu Ausstellun­gs-Objekten geworden. Sie unterschei­den sich von allen anderen Torpfosten und Cola-Dosen, die nichts sind als Netzhalter­ungen und Getränkebe­hältnisse, dass sie Fußballges­chichte geschriebe­n haben. Ohne sie wäre das Borussia-Narrativ ein anderes: Die zweite Meistersch­aft ohne den Pfostenbru­ch, das Inter-Drama ohne die Dose – es würde das Tragische, das Absurde fehlen. Beides ist wesentlich für Borussias Selbstvers­tändnis. Darum hat 1971 wie kein anderes Jahr den Mythos geprägt.

 ?? FOTO: IMAGO/ ?? Am 3. April 1971 fiel bei Borussias Spiel gegen Werder Bremen ein Tor auf eine ganz besondere Weise.
FOTO: IMAGO/ Am 3. April 1971 fiel bei Borussias Spiel gegen Werder Bremen ein Tor auf eine ganz besondere Weise.

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