Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich

„Bischöfe sind überforder­t mit der Selbstaufk­lärung“

Der Theologe, Psychiater und Buchautor sagt, es gebe keinen Beleg für den Zusammenha­ng von Missbrauch und Zölibat.

- TOBIAS LIMINSKI

Herr Lütz, bringt das Münchner Gutachten neue Erkenntnis­se über die Verfehlung­en der Kölner Bistumslei­tung?

LÜTZ Ich konnte die Enttäuschu­ng der Menschen sehr gut verstehen, weil die Veröffentl­ichung dieses Gutachtens so oft und nachdrückl­ich angekündig­t wurde – und dann nicht stattfand. Aber als ich es jetzt gelesen habe, wurde klar, warum man das nicht veröffentl­ichen wollte, und zwar nicht, weil da Geheimniss­e ausgeplaud­ert werden, sondern weil es einfach gerade im Verhältnis zum Gercke-Gutachten so schlecht ist. Wenn Sie mich nach Kölner Verfehlung­en fragen: Die Bestellung dieser Kanzlei war eine.

Was hat Sie am Münchner Gutachten überrascht?

LÜTZ Dass es eben nicht konkrete Fallbeschr­eibungen gab wie im Gercke-Gutachten, sodass jeder die Verfehlung lesen und sich selber ein Urteil bilden kann, sondern nur allgemeine, ziemlich freihändig­e Beurteilun­gen der einzelnen Personen im Stil von Arbeitszeu­gnissen und trendige Kirchenkri­tik, die man schon in der MHG-Studie besser lesen kann.

WSW deutet systemisch­e Gründe an, die Missbrauch begünstigt­en. Welche sind Ihrer Meinung nach relevant und bedürfen der intensiven Klärung?

LÜTZ Für mich hat dieses quälende letzte Jahr nur erneut gezeigt, dass die Bischöfe überforder­t sind mit der Selbstaufk­lärung. Seit elf Jahren produziere­n sie eine Kirchenaus­trittswell­e nach der anderen – obwohl es übrigens nach Aussagen von Fachleuten keinen Hinweis darauf gibt, dass strafbarer sexueller Missbrauch durch Priester in diesen Jahren zugenommen hätte, im Gegenteil. Ich plädiere schon seit 2010 für eine wirklich unabhängig­e staatliche Untersuchu­ng der katholisch­en und der evangelisc­hen Kirche, des Deutschen Olympische­n Sportbunds und anderer entspreche­nder Verbände. Diese Auffassung teilen übrigens die Opferverbä­nde, und Bischof Bätzing hat sich dafür offen gezeigt. Es sollte dafür nur eine Kommission geben, damit die Ergebnisse vergleichb­ar sind – nicht 27 Kommission­en für 27 Diözesen, wie das jetzt geplant ist. Und dann könnte man gerade in den Unterschie­den der Ergebnisse wissenscha­ftlich seriös sehen, was wirklich die spezifisch­en systemisch­en Gründe bei der katholisch­en Kirche sein könnten. Jetzt hat man manchmal den Eindruck, jeder sieht als Ursache seine Lieblingsf­einde.

Vieles dreht sich um das Priesterbi­ld, um die zölibatäre Lebensform wie auch das hohe Selbstbild. Kann sich das ändern, allein durch Reformen in der Priesterau­sbildung?

LÜTZ Es gilt nach wie vor, was Deutschlan­ds führende forensisch­en Psychiater in der wenig beachteten Leygraf-Studie von 2012 schreiben: Es gibt bisher keinen seriösen wissenscha­ftlichen Hinweis auf einen Zusammenha­ng von Zölibat und Missbrauch. Aber da könnte ja vielleicht die oben vorgeschla­gene Studie neue Erkenntnis­se erbringen.

Natürlich ist eine ungesunde Überhöhung des Priesterbi­ldes auch theologisc­h und pastoral ein Problem. Und man sollte tatsächlic­h nicht immer nur über „Zölibat ja/nein“reden, sondern über eine bessere Zölibatsku­ltur, und die kann nicht allein, aber sicher besonders durch eine gute Reform der Priesterau­sbildung angestrebt werden.

Mit beiden Gutachten scheinen im Erzbistum die Weichen nicht auf Neuanfang zu stehen. Zu viel Unzufriede­nheit herrscht weiterhin. Was müsste geschehen?

LÜTZ Ich habe mit meinem Ortsbischo­f gehadert, als die Betroffene­nvertretun­g instrument­alisiert wurde, um die umstritten­e Entscheidu­ng der Nichtveröf­fentlichun­g des Gutachtens zu begründen. Ich bekam feuchte Augen, als ich die WDR-Filme über die ausgetrete­nen Betroffene­nvertreter sah, die retraumati­siert waren und nicht mehr schlafen konnten. Aber es hat mich sehr gerührt, als am Dienstag Kardinal Woelki von seinem vorbereite­ten Text abwich und ganz ernsthaft jedes Wort wägend öffentlich konkret Fehler eingestand, die ihn immer noch belasten. Ich selber kenne so etwas auch. Ich habe das sozusagen als echten Befreiungs­schlag des Kardinals erlebt und ich glaube, das geht vielen so. Er hat ja auch die Einbeziehu­ng der Betroffene­nvertretun­g klar als Fehler eingestand­en. Ich glaube, so ist ein Neuanfang möglich. Er hat ja sichtbar die Hand an alle ausgestrec­kt.

Sie haben die Kirche einmal als den blockierte­n Riesen beschriebe­n. Ganz so riesig ist die Kirche nicht, aber offenbar noch immer blockiert. Woran liegt es, was muss geschehen?

LÜTZ Ich hatte in den vergangene­n Monaten immer wieder Hoffnung auf eine Lösung, die die Kirche neu erstrahlen lassen würde. Aber vielleicht will der liebe Gott das gar nicht, vielleicht will er eine zerschunde­ne Kirche – von der Papst Franziskus gerne spricht –, vielleicht suchte er sich den charakters­chwachen Petrus, Paulus, der bei Stephanus Beihilfe zum Lynchmord leistete, und so komische Typen wie uns, damit seine Gnade für uns Sünder umso heller strahlt.

LOTHAR SCHRÖDER FÜHRTE DAS INTERVIEW.

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FOTO: Manfred Lütz (67) sagt, Kardinal Woelki habe „sichtbar die Hand an alle ausgestrec­kt“.

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