Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich
Gemeinsam einsam
Das Ich verdrängt das Wir. Die Folge ist eine zunehmende Vereinzelung.
Samstags kaufe ich meistens Gemüse und Schnittblumen auf einem Wochenmarkt in meinem Berliner Kiez, im Prenzlauer Berg. Dabei beobachte ich stets ein bemerkenswertes Phänomen: Ich treffe viele Menschen, die alle irgendwie besonders wirken – und damit doch auch wieder gleich. Individualismus, zur Schau gestellt durch Kleidung, liebevoll gestaltete Autobusse, ungewöhnliche Biografien und mitunter auch die Vornamen des Nachwuchses sind heutzutage ein Massenphänomen. Der Berliner Soziologe Andreas Reckwitz nennt das in einem gleichnamigen Buch „Gesellschaft der Singularitäten“.
Gemeint ist ein in vielerlei Hinsicht positiver Trend. Es besteht weniger Druck als früher, gesellschaftlichen
Normen zu entsprechen. Allein leben, als Paar, in einer Wohngemeinschaft oder als Mehr-Generationen-Großfamilie: Alles geht.
Für diese Freiheiten zahlen die Menschen aber auch einen Preis. Das größere Ich bedingt oft weniger Wir. So erkläre ich mir zumindest, dass seit einiger Zeit so viele Menschen Einsamkeit beklagen. Gerade hat die 30-jährige Publizistin und CDU-Politikerin Diana Kinnert in einem Buch beschrieben, wie verbreitet dieses Gefühl gerade auch bei Jüngeren ist. Also auch bei Vertretern der Generationen, die ständig über soziale Medien mit vielen anderen virtuell verbunden sind. Ich glaube, wir sollten das Problem ernst nehmen, aber gleichzeitig auch anerkennen, wie viele Gegenmaßnahmen es schon gibt. Schließlich entstehen seit ein paar Jahren neue gemeinschaftliche Formate – von digitalen Nachbarschafts-Foren wie Nebenan.de über Baugruppen bis zu geteilten Autos. Was auf zivilgesellschaftlicher Ebene langsam besser funktioniert, sollte auch im Wahljahr Thema sein: Wie kann Politik Menschen zusammenbringen – durch kluge Planung beim Wohnungsbau, in der Verkehrs- oder Familienpolitik? Wer es vor der Corona-Pandemie nicht gemerkt hat, dürfte jetzt gelernt haben: Die Sehnsucht nach Zugehörigkeit ist so groß wie lange nicht.