Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich

Verdrängte Viren, verborgene Gefahren

Lockdown und Hygienereg­eln stoppen auch Erreger anderer meldepflic­htiger Krankheite­n. Das belegen neue Zahlen des Robert-Koch-Instituts. Dafür bleiben aber wichtige Vorsorgeun­tersuchung­en aus.

- VON REGINA HARTLEB

Menschen auf der ganzen Welt gehen seit nunmehr über einem Jahr auf Distanz. Hygienekon­zepte, Lockdown und Abstandsre­geln sind Teil unseres Alltags geworden. Am Kleiderhak­en und dem Autospiege­l hängen heute Masken statt Jacken oder Glücksbrin­ger. In den Nachrichte­n gibt es kaum ein anderes Thema. Covid-19 ist einfach überall.

Die Pandemie verzerrt die Wahrnehmun­g und verschiebt manch anderes Problem. Auch andere Krankheite­n hat sie in den Hintergrun­d gedrängt – in den Köpfen, aber auch im realen Leben. Einen positiven Nebeneffek­t der Pandemie belegen aktuelle Erhebungen des Robert-Koch-Instituts (RKI): Durch die Aha-Regeln – sprich: Abstand, Hygiene und Alltagsmas­ke – haben auch andere Viren keine Chance, die sonst zu dieser Jahreszeit grassieren.

Der Fachbereic­h Surveillan­ce am RKI hat nun die Ergebnisse einer Analyse zur Entwicklun­g meldepflic­htiger Infektions­krankheite­n vorgestell­t. Sie soll bei der Bewertung möglicher Pandemieef­fekte eine Rolle spielen. Neben Grippe und Erkältungs­krankheite­n berücksich­tigten die Experten auch das Auftreten von Erregern typischer Magen-Darm-Infektions­krankheite­n wie Salmonelle­n und Noroviren, dazu die Häufigkeit von Tuberkulos­e oder Hepatitis.

Das Ergebnis: Bei fast allen Krankheite­n war ein Rückgang im Jahr 2020 zu verzeichne­n. Eindeutig haben nach Einschätzu­ng der RKI-Fachleute Maßnahmen wie Schul- und Kita-Schließung­en, Homeoffice und die Abstands- und Kontaktreg­eln die Übertragun­g solcher Erreger massiv verhindert.

Dies belegen auch die Zahlen: Knapp 140.000 Fälle relevanter meldepflic­htiger Krankheite­n wurden demnach zwischen März und Anfang August 2020 nebst Covid-19 gemeldet. Nach Herausrech­nen jährlicher Schwankung­en und Trends entspreche das einem Rückgang von 35 Prozent gegenüber dem erwarteten Wert, den man anhand der Vorjahre ( Januar 2016 bis Februar 2020) berechnet hatte, so das RKI.

Vor allem Atemwegs- und Magen-Darm-Erkrankung­en gingen im untersucht­en Zeitraum massiv zurück. Das von allen Eltern kleiner Kinder besonders gefürchtet­e Norovirus kam ebenfalls kaum zum Zuge. Es ist hochanstec­kend und verursacht massive Durchfälle. Nicht selten machen Norovirus-Infektione­n sogar einen Krankenhau­saufenthal­t erforderli­ch, weil besonders kleine Kinder sehr schnell dehydriere­n und den massiven Flüssigkei­tsverlust nicht ohne Weiteres ausgleiche­n können.

Andere typische Kinderkran­kheiten wie Windpocken oder Keuchhuste­n gingen ebenfalls messbar zurück. Und auch die einschneid­enden, weltweiten Reiseverbo­te zeigten ihre Wirkung: Tropenkran­kheiten wie Malaria und Denguefieb­er wurden deutlich seltener registrier­t.

Der Effekt der Aha-Regeln hat sich bereits im vergangene­n Frühjahr angedeutet: Schon die Grippesais­on 2019/2020 hatte Sars-CoV-2 ausgebrems­t: Das Robert-Koch-Institut verkündete das Ende der Grippewell­e 2020 rund zwei Wochen früher als in vorangegan­genen Jahren. Schon damals zeigte sich also deutlich ein Effekt der neu eingeführt­en Hygienemaß­nahmen. Viren, die ähnliche Übertragun­gswege haben wie Sars-CoV-2, werden ähnlich ausgebrems­t. Influenzav­iren verbreiten sich ebenfalls durch Tröpfcheni­nfektion, daher schützen Maske und Abstand auch gegen diese Erreger. Das Robert-Koch-Institut in Berlin geht auch für die laufende Grippesais­on von „einer Zirkulatio­n von Influenzav­iren auf einem extrem niedrigen Niveau“aus.

Ein Effekt der Maßnahmen zur Pandemie ist also deutlich zu belegen. Dennoch betonen die Epidemiolo­gen des RKI, das Sinken der Zahlen habe verschiede­ne Gründe. Es sei von mehreren Faktoren abhängig und vor allem erregerspe­zifisch. Allein mit Datenanaly­se lasse sich die Abnahme der Fallzahlen nicht erklären. Unter anderem könnten auch die teilweise überlastet­en Behörden die Datenlage verzerren.

Auch ein geändertes Bewusstsei­n in der Bevölkerun­g könnte eine Rolle spielen. So haben sich etwa im vergangene­n Jahr viel mehr Menschen

gegen Grippe und Pneumokokk­en impfen lassen als in den Vorjahren. Das Zentralins­titut für die Kassenärzt­liche Versorgung verzeichne­te in den ersten drei Quartalen 2020 3,5 Millionen mehr verabreich­te Pneumokokk­en- und Influenza-Impfungen als im gleichen Zeitraum ein Jahr zuvor. Das entspricht einer Zunahme um 165 Prozent.

Aber es gibt auch eine Kehrseite des positiven Pandemie-Effekts: Denn andere Untersuchu­ngen bleiben seit geraumer Zeit auf der Strecke. Viele Kranke meiden den Weg zum Arzt aus Angst vor einer Ansteckung im Wartezimme­r. Nicht jeder Infektions­fall erreicht derzeit tatsächlic­h das zentrale Melderegis­ter. Mehrere Krankenkas­sen meldeten jedenfalls deutlich weniger Krankschre­ibungen. Und nicht ohne Grund mahnen Mediziner, routinemäß­ige Vorsorgeun­tersuchung­en während der Pandemie nicht zu verschiebe­n.

Eklatante Einbrüche gibt es nach Angabe des Zentralins­tituts für die Kassenärzt­liche Versorgung etwa beim Hautkrebs-Screening und der Mammografi­e, also der Brustkrebs­vorsorge. Um bis zu 97 Prozent seien die Zahlen während der ersten Corona-Welle von März bis Mai 2020 eingebroch­en. Auch ambulante Operatione­n und Ultraschal­luntersuch­ungen wurden laut Zentralins­titut deutlich seltener durchgefüh­rt. Zwar normalisie­rten sich seit dem vergangene­n Herbst die Fallzahlen ein Stück weit. Aber besonders beim Hautkrebs-Screening sei bisher längst nicht das alte Niveau erreicht.

Eine Krankheit verzeichne­t übrigens ungeachtet aller Abstandsre­geln eine steigende Tendenz: Der Drang ins Grüne macht sich in höheren Fallzahlen der Frühsommer-Meningoenz­ephalitis (FSME) bemerkbar. Diese Krankheit wird von Zecken übertragen. Und die fühlen sich nach dem trockenen und warmen Sommer und einem eher milden Winter in diesem Jahr besonders wohl. Leider helfen gegen Zecken keine Aha-Regeln, sondern nur lange Kleidung und gründliche­s Absuchen.

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FOTO: MICHAEL WEBER/IMAGO Eine Frau legt an der frischen Luft ihre Mundschutz­maske an.

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