Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich
„Wir probieren es einfach aus“
Der Tübinger Oberbürgermeister über seinen Sonderweg in der Pandemie, Corona-Ausbrüche bei Flüchtlingen und Krach mit Grünen.
Herr Palmer, fühlen die Tübinger sich wie auf einer Insel der Glückseligen mitten in der dritten Welle?
PALMER Soweit will ich nicht gehen, denn auch bei uns gibt es natürlich große Sorgen vor der Pandemie und einer Covid-19-Infektion. Für viele Menschen ist es aber tatsächlich ein enormes Glücksgefühl, nach Monaten der Beschränkungen mal wieder draußen in einem Café oder Restaurant sitzen zu können und gemeinsam mit anderen Leuten etwas zu trinken und zu essen.
Was macht Ihr Konzept besser als das der meisten anderen Städte?
PALMER Wir wissen noch nicht, ob es besser ist. Wir probieren es einfach aus. Das Konzept fast aller anderen Städte beruht ja auf der Idee des Bundes, die Pandemie über scharfe Kontaktbeschränkungen in den Griff zu kriegen. Aber der Weg eines harten Lockdowns bringt massive Kollateralschäden mit sich. Die Menschen leiden gesundheitlich, vor allem psychisch, die Wirtschaft bricht ein. Das will ich vermeiden, wenn es geht.
Aber Sie riskieren doch mit Ihrem Experiment ebenfalls, dass es durch mehr Infektionen zu schweren medizinischen Folgen kommt.
PALMER Ohne Frage birgt der Tübinger Weg ein solches Risiko. Es kann aber auch umgekehrt sein, denn wir finden pro Woche 30 Tübinger, die gar nicht wussten, dass sie infiziert sind. Die stecken dann niemand mehr an. Die Computermodellierungen sind mir nicht genau genug, die als einziges Mittel den Lockdown ausspucken. Die Datenbasis ist wichtig, um alternative Wege zu finden. Und die generieren wir mit den massenhaften Tests bei uns, damit wir die Infektionswege besser verstehen lernen. Und ich lasse mich nicht von Inzidenzwerten verrückt machen.
Wie meinen Sie das?
PALMER Ich schaue nicht auf den Inzidenzwert in Baden-Württemberg oder den des Landkreises Tübingen. Für mich zählt eher der Wert in der Stadt, der im Moment bei etwas über 60 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner und Woche liegt. Allerdings haben wir derzeit einen Sondereffekt durch etwa zehn Corona-Infektionen in einer Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge. Von dort droht aber kein Risiko für die Infektionslage im übrigen Stadtgebiet, weil die Menschen in der Einrichtung weitgehend unter sich bleiben.
Sie wollen also an Ihrem Weg festhalten, auch wenn der Inzidenzwert der Stadt wegen eines lokalen Ausbruchgeschehens ansteigt?
PALMER Entscheidend ist für mich die Positivrate der Corona-Tests, die wir bei uns als Eingangsticket in die Innenstadt durchführen und ob diese Rate steigt. 50.000 Tests haben wir schon hinter uns. Davon war im Schnitt bislang nur einer von Tausend positiv.
Glauben Sie, dass sich Ihr Modell auf andere Städte übertragen lässt, wie es die Kanzlerin angeregt hat?
PALMER Ich bin davon überzeugt, dass unser Modell auch anderswo angewandt werden könnte. Wichtig ist die Vorbereitung eines solchen Projekts. Wir haben schon im November mit Lisa Federles Arztmobil begonnen, konkret hatten wir am
Ende zwei Wochen Zeit für die Umsetzung. Sie müssen unbedingt genug Tests vorhalten und das mit den Lieferanten eng abstimmen, Betriebe mit an Bord holen, die auch mit Einschränkungen leben müssen, damit sie mehr Kunden bedienen dürfen. Beispielsweise ist die Voraussetzung für einen Friseurbesuch bei uns auch ein negativer Corona-Test.
Einige Länder wollen die Notbremse nicht konsequent ziehen. Haben Sie Verständnis dafür?
PALMER Ich kann die Ministerpräsidenten verstehen, die jetzt nicht einfach blind die Rückkehr in den harten Lockdown von Anfang März anordnen wollen. Ich halte ihre Sorge
für berechtigt, dass man damit die Schraube überdrehen könnte und die Akzeptanz der Menschen für Lockdown-Maßnahmen insgesamt gefährdet. Zumal die heutigen Probleme erst entstanden sind, weil Bund und Länder sich vor knapp vier Wochen auf Öffnungen geeinigt haben, ohne ausreichend Tests etwa an Schulen zur Verfügung zu stellen.
Braucht es eine Aussprache zwischen Ihnen und Karl Lauterbach von der SPD, der Ihren Weg scharf kritisiert hat?
PALMER Nein, das glaube ich nicht. Karl Lauterbach und ich begegnen uns doch eh in gefühlt jeder dritten Talkshow und können uns dort austauschen. Außerdem sind wir gar nicht so weit auseinander. Ich trage die Forderung nach einer Ausgangssperre von 20 bis 6 Uhr mit und finde auch, dass es eine Testpflicht für Unternehmen braucht. Nur seine Idee vom Lockdown als erstes Mittel der Wahl teile ich nicht.
Seit Ihren Äußerungen über Flüchtlinge gelten Sie bei vielen Grünen als Schmuddelkind, das leider erfolgreich ist und Lob bekommt. Fühlen Sie sich ungerecht behandelt?
PALMER Jeder kann sich gerne selbst ein Bild davon machen, wie gut unser Konzept hier in Tübingen funktioniert. Nur bitte nicht an Ostern, da lassen wir niemanden von außen in die Stadt, weil der Andrang zu groß würde. Aber es ist ja mehr als das. Die Wohnungspolitik, der Klimaschutz, ein schuldenfreier Haushalt. die Ansiedlung wichtiger Forschungsunternehmen wie Curevac, das in Tübingen Corona-Impfstoffe entwickelt. Tübingen steht glänzend da und ich bin seit 14 Jahren Oberbürgermeister. Ich würde meinen Parteifreunden empfehlen, sich an der Bibel zu orientieren: An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.
So wie Sie sich über Flüchtlinge äußerten, haben Sie viele in der Partei gegen sich aufgebracht.
PALMER Ich äußere mich über Flüchtlinge so, wie es den Tatsachen entspricht. Das mag dann dem Wunschdenken einer Mehrheit in meiner Partei widerstreben, ich werde mich danach aber nicht richten. Die Konsequenzen trage ich.
Sollten Annalena Baerbock und Robert Habeck auf die Entscheidung der Union in der K-Frage warten?
PALMER Nein, da sehe ich keinen Zusammenhang. Unsere Spitze kann ihre Entscheidung völlig losgelöst von der Union fällen.
Welches Kriterium ist entscheidend, wen von beiden Sie bevorzugen für die Kanzlerkandidatur?
PALMER Das Geschlecht spielt für mich gar keine Rolle. Für mich ist entscheidend, wer am Ende das Amt am besten ausfüllen könnte.
Und kann das Annalena Baerbock besser? Oder Robert Habeck?
PALMER Das behalte ich für mich.
Was fehlt Ihnen noch am grünen Wahlprogramm?
PALMER Um die Frage beantworten zu können, müsste ich den Entwurf erstmal lesen. Dafür hatte ich noch keine Zeit.
JAN DREBES FÜHRTE DAS INTERVIEW.